Der kritische Begleiter

The Holy Greil“: Greil Marcus‘ jahrzehntelange Dylan-Beobachtungen und seine neue Dylan-Begeisterung ab der 1990er Jahre

von Thomas Waldherr

„Ich finde es faszinierend, sich zum Beispiel mit der amerikanischen Folkmusik zu beschäftigen, mit ihren großen Geheimnissen, mit den fantastischen emotionalen Konflikten, die sie bisweilen in einen einzigen Song packt. Diese Songs lassen einem Raum, den man mit Interpretationen füllen kann – indem man sie singt oder indem man über sie schreibt, auch darüber, was die Akkorde bedeuten, was einem die Melodie sagt. Für jeden Autor ist das auch eine Frage der Eitelkeit – man schreibt über die eigene Wahrnehmung von Musik, weil man sich für sich selbst interessiert.“

„Er [Dylan] hat es geschafft, seine Privatsphäre zu schützen und so den Fokus der Öffentlichkeit auf seine Musik zu legen…Das ist wohl auch der Grund, warum beim Erscheinen eines neuen Dylan-Albums vor allem über die Musik geschrieben wird. Ist sie gut? Was passiert mit diesem Pastiche eines alten Bluessongs, den er sich zu eigen macht? Ist das ein emotionales Statement, durch das wir uns lebendiger fühlen, wenn wir es hören? Über Dylan als Person zu reden lohnt sich nicht, weil man über ihn nichts weiß.“

Greil Marcus, ZEIT-Online, 20. Dezember 2013

Natürlich beginnen wir diesen Text mit Greil Marcus‘ berühmtesten Verriss, seiner Kritik von „Self Portrait“ 1970: „What is this shit?“ Marcus stieß sich wie viele Fans an den kitschigen Songs, an den mal überproduzierten, mal schlampig aufgenommenen Tracks. Was wollte Dylan damit? Seine Fans verprellen? Sicher auch das. Doch Dylan ging es nicht zuletzt darum, die eigene künstlerische Autonomie zu bewahren. Ein Umstand, den Dylan zu einem Solitär in der Unterhaltungsindustrie werden ließ.

Marcus aber hat das später sicher verstanden, wie er so vieles bei Dylan verstanden hat. Weil er eben nicht die Person über die Musik gestellt hat. Und weil er auch nicht in erster Linie die Bedeutung eines Songs interessiert. In der Einleitung seines Buches „Bob Dylan. Writings 1968 – 2010“ schreibt er davon, dass ihn stets mehr seine Reaktionen auf die Songs interessiert haben. Wie reagieren die Hörenden?

Meister darin, Verbindungen dazulegen

Greil Marcus, Quelle: Wikimedia Commons

Und Marcus ist ein Meister darin, Verbindungen von Folksongs darzustellen. Die offensichtlichen zu erklären, die verborgenen aufzuspüren, und die Bedeutung und die Zeitumstände dieser Verbindungen darzustellen.

Mit „Self Portrait“ und dem Dylan der 1970er und 1980er Jahre da konnte Marcus relativ wenig anfangen: „Also fing ich als Ungläubiger an: Ist das alles? Das kann nicht alles sein… Wenn der Niedergang, eine Art öffentliches Verschwinden, zu einer Selbstverständlichkeit wurde, war es nicht die fast biblische Geschichte, die die Musik erzählen würde: dass Bob Dylan fast zwanzig Jahre brauchen würde, um seinen Weg aus der Falle zu finden, die ihm sein eigener einstiger Triumph bereitet hatte…“, sagt er in seinen Bob Dylan-Writings.

Soll heißen, Dylan hatte den Folk und den Rock revolutioniert, indem er das Beste der zwei Welten zusammenführte und Songs mit Botschaften über die Gesellschaft und das Individuum ausstattete, die Relevanz besaßen. Das begeisterte den jungen Greil Marcus und brachte ihn zum Musikjournalismus. Doch als er zu schreiben begann, so Marcus Ansicht, ruhte sich Dylan auf seinem Triumph aus und übte sich in der Kunst des Hakenschlagens um des Hakenschlagens willens.

Der „kritische Greil“ rügt Dylan 1970er und 1980er

Selbst von vielen als Höhepunkte Dylan’schen Schaffens identifizierte Auftritte wie die „Rolling Thunder Review“ findet keine Gnade beim kritischen Greil. „Konfusion in fast jeder gesanglichen Darbietung, ein Pfund Zucker in fast jedem Arrangement“ urteilt er anlässlich der 2001er Veröffentlichung von „Live 1975 – The Rolling Thunder Review“ als 5. Teil der Bootleg Series. Stattdessen rief er mit seinem Buch „Bob Dylans Like A Rolling Stone – Die Biographie eines Songs“ 2005 nochmal die genialen Mittsechziger Jahre Dylans ins Gedächtnis.

Marcus redete und hörte sich nach eigener Aussage die Platten und Konzerte seit Ende der 1970er schön, doch erst mit „Good As I Been To You“ beginnt für Marcus wieder eine wirklich aufregende Dylan’sche Kunstproduktion.

Denn Dylan eignet sich das Werk der alten Folker und Blueser erneut an und wieder sieht man den Unterschied zu Dylans Zeitgenossen des Folk Revival. Dylan legt hier den Rock’n’Roll und Punk-Kern und die Wurzeln von ganz Amerika frei, wo die Schönsänger und Liedersammler nur verwalten wollten. Darum sind Bob Dylans Basement Tapes mit der Rockband, die damals noch The Hawks hieß, den Songs und Interpreten der Anthology viel näher als Baez, Seeger oder Paxton.

Cover zu Greil Marcus‘ „Folk Music – A Bob Dylan Biography in Seven Songs“, Quelle: Yale University Press

Marcus lobt Dylans Risikobereitschaft in dessen Alterswerk

Diese Tiefe, dieses „ins Risiko gehen“ ist nach Jahren der Agonie, wie sie Marcus bei Dylan konstatiert hat, nun wieder voll da. Das 1997er Comeback-Album „Time Out Of Mind“ ist nach der Phase der Selbstverständigung und Wiederaneignung der eigenen künstlerischen Geschichte dann auch für Marcus der Aufbruch in eine neue Dylan’sche Produktivität auf hohem Niveau. „Fünfzig Staaten und vierhundert Jahre in der Stimme“ lautet Marcus‘ Besprechung von „Time Out Of Mind“ im November 1997.

Gerade erst hatte Marcus da in seinem Buch über die Basement Tapes den oben genannten Zusammenhang zum „alten, unheimlichen Amerika“ der „Anthology“ hergestellt. Und da Marcus in seinem gesamten Schaffen stets die Verbindungslinien zwischen Songs, Geschichte und Gesellschaft gesucht hat, begeistert ihn Dylans Album: „Das ist das Neue an Time Out Of Mind und dem Land, das die Songs durchreisen, als wäre die Platte eine Karte, die man einmal liest und dann wegwirft, weil man sie ohnehin nicht vergisst, ob man will oder nicht: Obwohl die Platte aus Fragmente und Phrasen und Riffs besteht, weit älter als jede lebender Mensch , aus Bruchstücken alter volkstümlicher Sprachen, die scherzen und grummeln, als wäre es das erste Mal, entsteht ein Bild von einem Land, das sich selbst aufgebraucht hat, und der eigenartige Reiz von Time Out Of Mind liegt in seiner Vollständigkeit, seiner absoluten Weigerung, an sich selbst zu zweifeln“, schreibt Marcus in seiner Review und bezeichnet das Album als „eine Ende des amerikanischen Jahrhunderts-Platte“.

Dylan-Songs als Blaupause für Amerika

Auch „Love And Theft“ ist für ein großes Kompendium amerikanischer Befindlichkeiten. Insbesondere „High Water Everywhere (for Charlie Patton)“ dient ihm als Blaupause zum Diskurs über den amerikanischen Umgang mit Katastrophen und Terror. Erschien doch Dylans Album just am 11. September, dem Tag an dem die Türme in New York nach dem Terroranschlag fielen.

Cover von „Über Bob Dylan“ von Greil Marcus

Eine Dylan-Biografie, die keine ist

Und jüngst hat Marcus dann mit „Folk Music. A Bob Dylan Biography in Seven Songs“ doch noch eine ganz eigene Art von Biographie herausgebracht. Doch wie ich schon auf meinem Blog geschrieben habe: „Und so ist diese neue Bob Dylan-Biografie in sieben Songs ebenso wenig eine Biographie wie Dylans 66 Essays über Songs eine Philosophie darstellen. Und beides ist auch überhaupt nicht schlimm. Gut lesbar und erhellend sind beide…Doch während Dylan die kurze Form gewählt hat, bleiben Marcus‘ abenteuerliche Exkursionen mitunter zu lose verknüpft mit den Dylan-Songs als Forschungsgegenständen und führen manchmal etwas weitschweifig weg von ihnen…Möglicherweise wäre Marcus besser beraten gewesen, hätte er den übergroßen Bob Dylan-Bezug aus dem Buchtitel genommen. Denn er schreibt keine Biographie über Dylan, sondern äußert frei und assoziativ seine Gedanken über die amerikanische Folkmusik im 20. und 21. Jahrhundert und dabei über die vielleicht wichtigste musikalische Ausdrucksform des ‚anderen Amerikas‘. Und dabei sind die Dylan-Songs mehr verbindende Elemente als eigentliche Betrachtungsgegenstände.“

Marcus wahrt die Distanz zu Dylan

Sprich: Marcus schlägt sich mit seinen eigenen Waffen, er verheddert sich in seinem typischen Vorgehen. Doch davon unbenommen: Marcus‘ Art über Dylan zu schreiben, ist näher an der Musik und deren gesellschaftlichen Verbindungen und geschichtlichen Ursprüngen als viele andere. Marcus hat mit Dylan im Grunde nie wirklich gesprochen und wahrt die kritische Distanz. Dabei ist weitaus erhellender als so manche andere, die sich zu sehr auf die Person Dylan einlassen und versuchen, Dylans Werk biographisch zu deuten. Freuen wir uns auf viele weitere kluge Kommentare vom kritischen Greil zum wirken unseres Lieblings-Bobs.

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