von Richard Limbert
Old Weird America. Diese beinahe schon sprichwörtlich gewordene Bezeichnung prägte der Journalist und Autor Greil Marcus in den 90er Jahren wenn er über die Explosion einer neuen Musikästhetik spricht die sich spätestens seit Ende der 60er Jahre in den USA etablierte: ein Zurück auf die erdige Basis nach den künstelnden Kringeln der psychedelic Welle. Und dieses Zurück soll nicht auf das Gute Alte, das Konservative der USA führen, sondern eben auf das etwas Schräge, das etwas Anarchistische, das Individuelle, eben Basisdemokratische der US-Kultur führen. Das Schmutzige und Mysteriöse der US-Kultur war somit als Weiterentwicklung des ersten Folk-Revival der frühen 60er Jahre knapp 10 Jahre später im gereiften Mantel wieder zurück. Und Bob Dylan war ganz an vorderster Front in dieser Bewegung. Man kann schon fast sagen, dass er als einer der ersten in die Bresche sprang als er schon 1967 zusammen mit den Musikern aus denen später The Band werden sollte alte Cowboysongs in seinem Keller aufnahm. Einfach nur so, einfach weil er Spaß daran hatte.
Old Weird America und die Geschichte mit Bob Dylan als Cowboy
Doch der Topos des Old Weird America war zu dieser Zeit noch kein feststehender Begriff. Ähnlich wie der Genrebegriff Americana sollte er sich erst im laufe der 80er und 90er Jahre im Diskurs dieser Musik herausschälen. Ende der 60er Jahre war das alles einfach noch ein ganz genereller Schritt Richtung Country-Rock und Folkigen Sounds. Es passt für Dylan da ganz gut, dass er 1972 beim düsteren Antiwestern Pat Garrett & Billie the Kid mitspielt und die Musik komponiert. Dylan hat vorher schon mit Self-Portrait und New Morning zwei Alben herausgebracht, die sich durchaus an Country anlehnen, mit Nashville Skyline 1969 sogar ein waschechtes Country-Album produziert und damit einigermaßen Erfolg gehabt. Doch der Film steht unter einem etwas schlechterem Stern: Mit dem Regisseur, Sam Peckinpah, kam er menschlich nicht aus und das Schauspielern gelang ihm auch nicht so richtig. Da ist es schon verständlich, dass ihm die Aufnahmesessions zum Filmsoundtrack auch nicht so ganz gelingen wollten: die Stimmung war schlicht und ergreifend schlecht. Was in der Musik Dylans aber gut durchkommt ist eine melancholische, erdige Ästhetik, die sehr gut zum Western passt, der tiefer geht als der Heldenfilm mit John Wayne oder Gary Cooper. Aus diesem Soundtrack trieft es geradezu von US-Südstaaten-Flair ohne den US-South in die Höhe heben zu wollen. Es ist Dylans erstes Album mit Banjo im Line-Up und atmosphärischen Instrumentalstücken in Gringo-Manier. Der Große Hit Knocking On Heaven’s Door sollte hier entstehen. Viel wird aus den Sessions aber nicht auf das später erscheinende Album kommen und so ganz überzeugt etwas großes geschaffen zu haben gehen die Musiker hier nicht aus dem Studio. Weder der Film, noch das Album wird ein großer Erfolg und Dylan wendet sich der Country-Musik seitdem schon fast ein wenig ab. Er geht mit Planet Waves und Blood on the Tracks lieber mehr in Richtung klassischer Singer-Songwriter.
Doch diese fruchtlosen Sessions sollten nicht ohne Folgen bleiben. Neue Musiker entdecken nicht nur neue Wege, sondern sind oft auch besonders neugierig wenn es um alte Aufnahmen geht. Und einem jungen Folkie aus den USA fiel eines Tages gerade eine alte Aufnahme von diesen Dylan-Sessions in die Hände. Und das hatte Folgen.

Die 90er Jahre entdecken den Folk neu
Old Crow Medicine Show sind eine US-Folk und Old Time String Band die sich als Straßenmusiker einen kleinen Namen gemacht haben nachdem sie sich 1998 gründeten. Als sie in North Carolina wieder einmal alte Folksongs auf der Straße spielten, wurden sie von Doc Watson entdeckt, einem der ganz Großen im Bluegrass und Folk der 50er und 60er Jahre. Die Jungs brachten den alten Musikveteranen mit ihrer Musik vor Freude fast zum Weinen und er soll der Legende nach gesagt haben, dies sei die beste Old Time String Band Music die er seit Jahren gehört hat. Durch die Verbindung zu Doc Watson wird schnell ein Traum für sie wahr: Januar 2001. Die Jungs spielen tatsächlich in der Grand Ole Opry, der wichtigsten Bühne der Country-Musik. Danach kam natürlich der große Durchbruch. Vor allem durch ihrem großen Hit und Ohrwurm Wagon Wheel ab den frühen 2000ern. Sie haben Wagon Wheel zwar erst 2004 mit weltweitem Erfolg herausgebracht, was viele aber nicht wissen: der Song war zu dem Zeitpunkt schon viele Jahre im Repertoire der Truppe. Der Gitarrist der Band, Critter Fuqua hatte Verwandtschaft in London und als Jugendlicher war er dort oft im Urlaub. Dort lebte er gegenüber von einem Virgin Megastore Plattenladen, in dem er öfter nach neuer Musik und alten Bootlegs suchte. Eines Tages fand er dort die Scheibe mit unveröffentlichten Session Aufnahmen von Bob Dylan von 1972. Viele dahergemurmelten Schrummel-Balladen waren darauf, irgendwo hörte man immer irgendwen im Hintergrund reden und nichts klang irgendwie fertig. Ein Song blieb Fuqua aber besonders im Kopf: ein Song, den Dylan Rock Me, Mama nannte. Die Akkorde klingen ähnlich wie bei Knockin‘ On Heaven’s Door und wahrscheinlich war der Song nur als kleine Fingerübung gedacht aus der später die bekannte Ballade werden sollte. Critter Fuqua war aber begeistert und schrieb kurzerhand einen Text für das Lied. Es war prinzipiell das vierte oder fünfte Mal dass er einen Bob Dylan Song umgeschrieben hat. Für ihn als Folkmusiker und im musikalischen Umfeld Aufgewachsenen war das normal. Er hat oft alte Folksongs als Teenager umgedichtet, im Stil von Walt Whitmans Leaves of Grass oder alte Gospel-Nummern. Und dazu hat er autobiographische Elemente in seinem Rock Me Mama-Texteingesetzt. Er studierte damals weit im Norden in New Hampshire und fühlte eine Menge Heimweh in Richtung US-Süden, also machte er den Song kurzerhand zu einem Roadtrip auf dem er seiner Liebsten hinterher reist und jeden Ortsnamen in die Lyrics packt, den er nur kannte: „It’s like I wrote myself a bus ticket“ hat er später dazu gesagt. Als er später seinen Freunden von der Band den Song vorspielte hatten alle nur eins zu sagen: „Man, that song is good!“. Ab diesem Zeitpunkt war Rock Me, Mama ganz normaler Song in seinen Sets und wurde in Wagon Wheel umgetauft. Und Old Crow Medicine Show hatte Glück: sie hatten einen Verlagsadministrator der wusste wie man an Dylans Management herankam. Ein seltener Segen. Sie fragten bei Dylan an ob sie den Song veröffentlichen durften und ein paar Wochen später kam die Antwort des Managements: „Bob Dylan approves it, he gonna call it a 50-50 split. And oh: but he wants you to know that Dylan didn’t write it. You know Dylan says he got it from Arthur Crudup“. Ein alter Blues-Song, Rock Me Baby, wurde vom Blues-Musiker Arthur Big Boy Crudup aber selbst zum Musiker Big Bill Broonzy zugewiesen. So kam eine Linie zustande die von Big Bill zu Big Boy zu Bob zu Old Crow führte. Ganz im Sinne des Folk also, hat dieser Song die gemeinsame Autorenschaft von 5 Leuten. Wagon Wheel wurde ein Riesenhit und brachte der Folk- und Americana Musik in den frühen 2000ern eine Welle neuer Popularität. Auch Dylan selbst war recht zufrieden mit Wagon Wheel und was die Jungs daraus gemacht haben. Er hat ihnen gleich einen nächsten Song aus den Pat Garrett & Billy the Kid Sessions zum Vertonen gegeben: Sweet Amarillo, den sie 2014 tatsächlich auch umarrangiert herausbrachten. Und einen ganz persönlichen Schulterklopfer Dylans gab es auch: nach einer Grammyverleihung trat ein Bob Dylan mit tief heruntergezogener Kapuze an Bandmitglied Gill Laundry und fragte geheimnisvoll: „Are you an old crow?“ Nachdem Laundry etwas unsicher bejahte, sagte Dylan nur krächzend: „You boys are killing!“

(Old Crow Medicine Show bei einem Konzert im Jahr 2012, Quelle: Wikimedia commons)
Und Dylan hatte nicht Unrecht: Old Crow Medicine Show bleiben einer der größten und beliebtesten Acts der akustischen Folk-Country Musik. Sie hatten 2016/2017 eine Tour mit Albumproduktion auf der sie Dylans Blonde On Blonde von 1966 ver-bluegrassten und sind immer auf der Suche nach neuen Weisen Old Time Music ganz frisch wirken zu lassen. Mein Kollege Thomas Waldherr beschrieb sie 2014 voll Euphorie als: „(…) das Beste, was die Countrymusik heutzutage zu bieten hat.“
Die Neuen im Country und Americana
Doch wenden wir unseren Blick einmal auf die gesamte Szene des Folk um 2000. Hier entsteht etwas, das Musikkritiker später Weird New America nennen, im Bezug auf Greil Marcus‘ Weird Old America. Mit Anthony & the Johnsons und Johanna Newsom werden eher die dunklen aber auch psychedelischen Zweige des Folk wieder neuentdeckt. Und das hat auch Folgen auf den Country. Old Crow Medicine Show waren eine der Stars der neuen akustischen Musik ab den späten 90ern, die auch junge Studenten und ein großes europäisches Publikum ansprachen. Schauen wir uns eine andere der Bands an die den Country abseits des Mainstream und von Nashville ab 2000 prägten:
The Devil Makes Three wurde 2002 gegründet. Mit Kontrabass (Lucia Turino), Banjo (Cooper McBean) und Gitarre (Pete Bernhard) sind die drei Musiker aus Vermont ganz klassisch in String Band-Aufstellung zu sehen. Lange Zeit spielten sie in verschiedenen Formationen bis 2009 mit dem Album Do Wrong Right der Durchbruch gelang. Bernhard und McBean haben dabei Punk gemacht bis 2002 die Bandgründung und der Country kam. Zwar kommen alle drei Musiker aus Vermont, nach der High School sind aber alle separat nach Kalifornien gezogen und haben hier ihre großen Erfolge gehabt. The Devil Makes Three covern alte Folk Songs, spielen richtig düsteren Blues. Sie haben den Schalk im Nacken und spitze Texte, die dabei manchmal religionskritisch, manchmal anarchistisch anmuten. Besonders bleibt aber oft ein unverkennbarer Drive durch Kontrabass und geschlagener Gitarre ihr Markenzeichen. Aber in ihrem Songwriting sind sie absolut abseits von klassischen Singer-Songwriter Idiomen: sie schreiben teilweise ihre Songs selber, covern neben alten Songs aber auch mal einen unbekannten Elvis Costello-Song aus einem Bootleg-Album und machen einfach das beste aus dem Material was ihnen am Wegesrand entgegenkommt. Der Hit Do Wrong Right wurde zum Beispiel von einem Jugendfreund namens Sean Jones geschrieben.

(v.l.n.r.: Cooper McBean und Peter Bernahrd von the Devilm Makes Three bei einem Konzert om Jahr 2014, Quelle: Wikimedia commons)
Schlussendlich singen die drei auch viel über ihre individuelle Lebenswege: in welchen WGs sie gewohnt haben, ihre Alkoholprobleme, wo sie sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen haben. Es lassen sich also Parallelen in der Songauswahl und im Songwriting zu Old Crow Medicine Show erkennen.

(Lucia Turino auf einem the Devil Makes Three Konzert im Jahr 2014, Quelle: Wikimedia commons)
Wo treffen sich Folkmusiker der 60er und die jungen Wilden der 2000er?
Was ist also das Gemeinsame zwischen Bob Dylan, Old Crow Medicine Show und the Devil Makes Three? Im Prinzip lässt sich hier einiges sagen, das alten Bildern von Folkmusikern und Songwritern entgegenspricht: im Kontrast zur landläufigen Meinung, dass Bob Dylan die Epiphanie des kongenialen Songwriters ist, aus dessen Kopf alles einer mysteriösen, unergründlichen Quelle gleich, problemlos und grenzenlos hervorspringt und der in der Tradition des Genie-Kultes nur Material aus seiner eigenen Feder zelebriert, zeigt sich hier, dass Bob Dylan – genau wie seine jungen Kollegen im Americana – eher großen Wert auf Offenheit legen und ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein haben. Ob ein Song nun von einem selbst, einem Freund, einem Musiker den man irgendwie mag oder ein alter Folksongs ist, ist hier eigentlich beinahe egal. Wichtig ist, dass man inspiriert ist. Alte Geschichten erzählen enthält ja immer, dass man auf bereits Bestehendes aufbaut und das zeigt sich hier im Americana durchgängig.
Alles sind hier außerdem Musiker aus dem Nordosten der USA, die auf dem ein oder anderen Weg herumkommen, vielleicht in die Südstaaten gekommen sind und sich sehr offen für neue Kulturen zeigen. Hier sieht man eine Parallele zum Folk-Revival der 60er Jahre das ganz klar von jungen, intellektuellen Studenten aus dem Nordosten der USA getragen wurden. Meist waren das Kids aus jüdischen Mittelschichtshaushalten, wie Phil Ochs, Paul Simon und eben Bob Dylan. Irgendwie ist eigentlich Old Weird America vom New Weird America vom grundsätzlichen Blick auf Kultur gar nicht zu unterscheiden. Höchstens musikalische Eigenheiten und schlicht die Generation der Musiker machen hier den Unterschied. Es bleibt am Ende wohl alles im Americana wie bei einem Folksong: Es ist gar nicht so alt und gar nicht so neu und irgendwie ist es doch beides.