von Thomas Waldherr
Natürlich legt Bob Dylan mit seinem neuen Buch keine „Philosophie“ vor. Trotzdem oder gerade deswegen ist es ein großartiges Werk
Gehen wir gleich zuerst auf das heikelste Thema ein. Die 66 von Dylan ausgewählten Songs stammen von 62 Männern und von nur vier Frauen. Das ist natürlich nicht gut, denn es gibt eine ganze Reihe genialer Songwriterinnen. Und Dylan kennt sie: Joni Mitchell, Carol King, Sheryl Crow beispielsweise. Es ist aber durch und durch eine subjektive Auswahl von Songs, die ihm etwas bedeuten und man kann und muss sich natürlich darüber beschweren und über sein Frauenbild rätseln. Aber das sollte einen nicht davon abhalten, das Buch zu lesen. Denn was Dylan hier macht, ist große (Sprach)-Kunst und seine Riffs und Essays sind so waghalsig, so wortreich, so verspielt, aber auch so meinungsstark, dass es eine wahre Freude ist. Mit seinen Riffs, den Texten, die sich emotional in die Songs reinfühlen, saugt er uns in das Buch hinein. Seine Sprache ist immer noch am Rhythmus der Beat-Poeten orientiert, ist „Stream of Conciousness“, ist bildreich und lässig plaudernd. So wie wir sie in seiner „Theme Time Radio Hour“ schon kennenlernen durften.

(Cover von „The Philosophy of Modern Songs, Quelle: Philosophy Simon & Schuster)
Immer noch im Stream of Conciousness
Und Dylan-typisch überrascht er uns immer wieder. Man darf sich nicht zu sicher sein. Denn wenn er uns gerade mit der Poesie der Liebe betört hat, verstört er uns auf der nächsten Seite mit Kommentierungen über den Lauf der Welt. So, wenn er über „War“ von Edwin Starr schreibt und plötzlich ganz reale politische Fragen erörtert, George W. Bush verdammt, von Kriegsverbrechen erzählt und dass die Menschen meist gleichgültig sind, wenn irgendwo Fremde im Krieg umkommen, dann erinnert man sich wieder, dass das der Typ ist, der „Masters Of War“ geschrieben hat.
Dylan verblüfft auch mit 81 Jahren immer noch. Noch immer hat er es drauf. Mit wenigen Bildern, in nur ein paar Sätzen bringt Bob Dylan gesellschaftliche Zustände auf den Punkt. Der Altmeister ist in diesem Buch alles andere als kryptisch oder sphinxhaft, was man ihm nur allzu gern immer wieder vorwirft. In Gegenteil. Es zeigt sich hier erneut: Der Alte ist viel näher an der Welt, als manche Kritiker, aber auch so manche Jünger es wahrhaben wollen.
Zum Beispiel wenn er sich im Essay über Pete Seegers „Waist Deep In The Big Muddy“ beklagt, dass es heutzutage nur noch Spartenkanäle gibt:
„Wir hatten alle ein gemeinsames kulturelles Grundvokabular. Menschen, die die Beatles in einer Abendsendung sehen wollten, mussten sich auch Flamenco-Tänzer, Komiker in weiten Hosen, Bauchredner und vielleicht sogar eine Szene aus Shakespeare anschauen. Heute ist das Medium so vielschichtig, man muss sich nur eine Sache herauspicken und kann sich ihr ganz ausschließlich auf einem spezialisierten Stream widmen.“
Näher an der Welt als mancher denkt
Das ist nicht rückwärtsgewandt, sondern vorwärts. In unseren Krisenzeiten wird plötzlich der Begriff der Gemeinschaft wieder wichtig, hat aber immer noch mit dem Überkommenen, aber irgendwie nicht weichen wollenden Neoliberalismus und seiner Propagierung des Einzelnen zu kämpfen.
Ebenfalls auf der Höhe der Zeit ist er, wenn er über Jimmy Reeds „Big Boss Man“ schreibt:
„Gewerkschaften, Aufstände, Revolten, leere Drohungen – auf so was achtest du gar nicht, du lässt das alles laufen, stehst drüber. Du bist der riesenhafte Zyklop – du befindest dich auf der richtigen Seite der Geschichte. Der oberste Oligarch, der Generalissimo, der omnipräsente Overlord, der die gesamte Welt wie Butler und Zimmermädchen behandelt. Du bist ein Mann von hohem Ansehen.“
Besser kann man diese Leute kaum beschreiben: Die Elon Musks, Donald Trumps, Bolsonaros und Putins dieser Welt. Dabei bleibt er – der große Verwandlungskünstler – sich hier doch treu, denn vor 40 Jahren hat er schon geschrieben:
„They say that patriotism is the last refuge
(Sweetheart Like You)
To which a scoundrel clings
Steal a little and they throw you in jail
Steal a lot and they make you king“
Bei allem misogynen Anwandlungen, die den Alten doch immer wieder überkommen: Man merkt seiner Sprache, seinen Themen, seinen Thesen an, dass er empathisch ist, dass er soziale Gerechtigkeit und Demokratie schätzt. Dylan ist ein aufgeklärter Mensch und paart dies mit Gottesglauben, was das sich in Amerika sich durchaus paaren kann. Er zeigt Empathie mit den Nöten der einfachen Menschen, er hegt Misstrauen gegen die Mächtigen, die er auch richtig identifiziert, er ergreift Partei für die Native Americans, seine Songauswahl zeigt die Vielfältigkeit Amerikas, in dem die afroamerikanischen, jüdischen und italienischen Beiträge zur US-Populärmusik ganz selbstverständlich dargestellt werden.

(Cover der deutschen Übersetzung, Quelle: Philosophie C.H. Beck)
Auch er kommt vor im Buch
Und auch wenn er nur einmal einen eigenen Song – Subterranean Homesick Blues – ganz nebenbei in seinem Essay zu Elvis Costello erwähnt, so ist in diesem Buch auch immer mal von ihm die Rede. Wenn Dylan seinen ehemaligen Mentor Pete Seeger, der so verzweifelt über Dylan Hinwendung zum Rock war, mit einem Essay ehrt und darin auch ganz klar von der politischen Ächtung Seegers bei weit in die 1960er Jahre schreibt und dessen Song „Deep Muddy“ eine echte Wirkung zugesteht, dann arbeitet er sich auch an seiner alten Rolle als Protestsänger und seinen Streit mit Seeger ab. Wenn er bei Jimmie Reed über dessen Mundharmonikahalter dann auch, weil er selber damit Weltruhm erlangte.
Dylans Philosophie des modernen Songs ist wie gesagt subjektive Auswahl von Songs, die Dylan wichtig sind. Aber wir er sie darstellt – mit klarem Blick, mal nüchtern, mal verspielt, aber immer wortgewandt und der guten Pointe zugetan, wird dieses Buch zu einer Liebeserklärung an den Song und seine Songwriter. Also zu der künstlerischen Welt, in der Dylan zu Hause ist, und die er selbst revolutioniert hat. Daher muss er auch keinen eigenen Song behandeln. Denn er ist mit jedem dieser Songs ohnehin verwoben. Genauso wie jeder neue Song, der eine Haltung, ein Anliegen und ein wirkliches Gefühl hat, sich bewusst oder unbewusst an ihm ausrichtet.
Bob Dylans Gesamtwerk ist nicht mehr und nicht weniger als eine weitere große „Anthology of American Folk Music“. Und dieses Buch ist ein wichtiges, wunderbares Nachschlagewerk darin, das zu den Wurzeln dieses Songwriters führt.