Frauen in der frühen amerikanischen Folk- und Countrymusik, Teil 1: Sara und Maybelle Carter, Aunt Molly, Florence Reece, Sis Cunningham und Ronnie Gilbert.
Von Thomas Waldherr
In einer kleinen Serie werde ich mich in dieser und in den nächsten Ausgaben von Key West mit den Frauen in der Folk und Countrymusik von den 1920er bis zu den 1960er Jahren beschäftigen.
Wie in jeder anderen gesellschaftlichen Sphäre war auch die amerikanische Roots Music über Jahrzehnte eine Männerdomäne. Und da Folk und Country ihre Basis vor allem im amerikanischen ländlichen Süden haben, umso mehr. Starke Religiosität, gesellschaftlicher Konservatismus und Bigotterie sind in diesem Landstrich seit jeher Realität.
Kein Wunder, dass da auch die aufkommende Folk und Countrymusik patriarchalisch geprägt war. Ob die Georgia Yellow Hammers oder Charlie Poole. Ob A.P. Carter oder Jimmie Rodgers – sie alle waren Kinder ihrer Zeit. Und das hieß: Der Mann bestimmt. Auch im schwarzen Blues war das nicht anders. Der Country-Blues war eine Männerdomäne, die Blues-Ladies waren ein Phänomen der Städte.
Doch hinter der dicken Schicht gesellschaftlicher Konventionen gibt es stets auch eine andere verborgene, informelle Realität. Dem will ich nachgehen, das interessiert mich.
Die Carter Family
Johnny Cash nannte sie die „First Family Of Country Music“. In der Tat waren sie die ersten großen landesweit bekannten Stars der Countrymusik, entdeckt zusammen mit Jimmie Rodgers bei den legendären Auditions von Ralph Peer 1927 in Bristol, Tennessee/Virginia. Und sie waren als Familie auch tatsächlich über Jahrzehnte aktiv und prägend für die Countrymusik.

Schaut man sich die Bilder an, dann sind die Rollen klar verteilt. Selbstbewusst steht der Familien-Patriarch A.P. Carter da hinter den beiden Frauen: Sara Carter, die Frau von A.P. und Maybelle, verheiratet mit Ezra Carter, dem Bruder von A.P.
A.P. gilt als der große Kopf der Gruppe, der die Lieder sammelte und dem Act damit die Richtung vorgab. Doch ganz so einfach ist es nicht. A.P. war als reisender Verkäufer und Handelsvertreter tätig, kam also viel herum in der Region der Zentral-Appalachen: Er lebte im Südwesten von Virginia und das liegt wiederum zentral zwischen Ost-Tennessee, West-North Carolina, Ost-Kentucky und Südost-West Virginia. Doch die Liedersammlerei wäre nicht möglich gewesen, ohne seinen schwarzen Freund, Begleiter und Helfer Leslie Riddle. Der sammelte und brachte Lieder zusammen, besonders eben von Musikern aus den Appalachen, und von Gottesdiensten aus vielen entlegenen Orten. Das waren die Quellen der vielen religiösen Lieder der Carter Family.
Musikalisch aber stand die Gruppe auf dem Fundament der beiden Frauen. Während A.P. eigentlich nur mitbrummte, war Saras großartiger Gesang – sie spielte dazu Gitarre und Autoharp – und das außergewöhnliche Gitarrenspiel Maybelles – das sie wiederum von Leslie Riddle lernte – die Markenzeichen der Gruppe. Zugespitzt gesagt: Der weiße Patriarch glänzte, weil er die Fähigkeiten und die Arbeit von Frauen und Schwarzen abschöpfte. A.P. Carter war geschäftstüchtig und sorgte für das Copyright mancher Carter Family-Version der traditionellen Songs.
Doch der öffentliche Eindruck der gesunden weißen, religiösen und sittsamen musikalischen Familie aus dem Süden bekam Risse. Denn sie waren halt doch normale Menschen. A.P. war immer lange auf Reisen und Sara wandte sich Coy W. Bays, einem Cousin von A.P. zu. 1933 trennten sich A.P. und Sara, 1936 ließen sie sich scheiden, doch als Carter Family machten sie noch einige Jahre weiter, bis Maybelle und ihre Töchter, darunter June Carter, die spätere Frau von Johnny Cash, die musikalische Dynastie weiterführten. Später in den 1960er Jahren traten Maybelle und Sara immer mal wieder zusammen auf. Nun bekamen sie den Ruhm und die Ehre, die ihnen zustand. A.P. Carter führte unterdessen einen Gemischtwarenladen in Virginia und starb fast vergessen.
Geschlechterverhältnisse: „Single Girl, Married Girl“
Und doch gab es auch Songs der Carter Family, die durchaus kritisch mit dem herkömmlichen Rollenverständnis umgingen. Wenn auch durchaus etwas fatalistisch, so ist „Single Girl, Married“ eine treffende Beschreibung der herkömmlichen Geschlechterverhältnisse:
„Single girl, single girl
She’s going just where she please
Oh, she’s going where she please
Married girl, married girl
Baby on her knees
Oh, baby on her knees“
No Depression In Heaven
Welches gesellschaftliche Bild die Carter Family aber in der Regel nach außen vertrat, macht sehr schön der Song „No Depression in Heaven“ deutlich. Die große Depression der 1930er Jahre beendete jäh ihre Karriere als Plattenstars. Live-Auftritte und Radio-Shows waren die Anker in wirtschaftlich schwerer Zeit. Im Song träumten sie sich von den Problemen weg: Im Himmel gab es keine Wirtschaftskrise:
„For fear the hearts of men are failing,
For these are latter days we know.
The Great Depression now is spreading,
God’s word declared it would be so.
I’m going where there’s no depression,
To the lovely land that’s free from care.
I’ll leave this world of toil and trouble,
My home’s in Heaven, I’m going there.
In that bright land, there’ll be no hunger,
No orphan children cryin‘ for bread,
No weeping widows, toil or struggle,
No shrouds, no coffins, and no death.“
In diesen 1930er Jahren spaltete sich die Folkmusik in eine kommerzielle Richtung – Countrymusik – und eine politische. Und auch letzteres entstand im Süden. In den Bergbaugebieten Kentuckys und West-Virginias, auf der Wanderschaft eines Woody Guthrie zwischen Oklahoma, Texas und Kalifornien. Doch während Woodys Erbe unbestritten und groß ist, werden die für diese Entwicklung wichtigen Frauen gerne übersehen.
Florence Reece
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, sagt der olle Marx. Hier trifft es zu. Während die Carters in einem länglichen Milieu von Landwirtschaft und Handel geprägt wurden, war Florence Reece mit dem Bergarbeiter-Gewerkschafter Sam Reece verheiratet und lebte in Harlan County, Kentucky. Dort fanden in den 1930er Jahren große Arbeitskämpfe zwischen den Bergarbeitern und den Minenbesitzern statt. Die Grubenbosse mieteten sich die staatlichen Ordnungskräfte, die oftmals voller Brutalität gegen Streikende vorgingen. Sam Reece war vor einem „Besuch“ dieser „Ordnungskräfte“ gewarnt worden, so dass der Sheriff und seine Leute ihn nicht mehr antrafen aber Florence und die Familie drangsalierten. Noch in dieser Nacht schrieb sie auf den Küchenkalender den Songtext „Which Side Are You On?“. In bester Folktradition wählte sie die Melodie der Hymne der Baptisten „Sing Lay, Sing Lay the Lily Low“, die auch die der traditionellen Ballade „Jack Monroe“ ist. Die Menschen sollte das Mitsingen einfach gemacht werden.

„Come all you poor workers
Good news to you I’ll tell
How that good old union
Has come in here to dwell
Which side are you on?
Which side are you on?
We’re starting our good battle
We know we’re sure to win
Because we’ve got the gun
Thugs are looking very thin
Which side are you on?
Which side are you on?“
Und da in den 1930er Jahren in den USA viele Arbeitskämpfe für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen stattfanden, verbreitete sich das Lied rasch. Florence Reece war und wurde keine professionelle Musikerin. Ihr ganzes Leben setzte sie sich für die Gewerkschaften ein, die in den 1930er und 1940er Jahren die Musik einsetzte, um Menschen zu organisieren. Prominenteste Gesichter dieser Kampagnen: Woody Guthrie und Pete Seeger. 1940 hört Letzterer das Lied von einem Bergarbeiter. Mit seinen „Almanac Singers“ bringt er es 1941 erstmals auf Platte heraus, Florence Reece lernt Seeger und die linke Musikszene in New York dann schließlich auch persönlich kennen.
Auch bei der großen Streikwelle in Harlan County 1973 mischt sie wieder mit und singt ihren Song A-Capella vor tausenden streikenden Kumpels. Bis zu ihrem Tod 1986 bleibt sie aktive Gewerkschafterin.
Aunt Molly Jackson
Auch Mary Magdalene Garland Stewart Jackson Stamos, genannt Aunt Molly Jackson, war eine Bergarbeiterfrau. Ihr Mann starb im Bergwerk, ihr Vater und ihr Bruder erblindeten bei einem Grubenunglück. Früh setzte sie sich daher in der Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne ein. Auch sie wurde in den 1930er Jahren bekannt. Sie sang vor dem Dreiser Committee, das den Harlan County War und die Lebensbedingungen der Arbeiter ihren Song „Ragged, Hungry Blues“. Sie schrieb weitere Protestsongs wie „I Am A Union Woman“, „Kentucky Miner’s Wife“, and „Poor Miner’s Farewell“. Sie wurde fast so etwas wie ein Gesangstar der Gewerkschaftsbewegung, sang in New York 1931 vor mehr 20.000 Menschen und nahm im Dezember 1931 auch einige Songs auf. Sie kam immer wieder nach New York und auch sie wurde Teil der linken Folkszene um Seeger und Guthrie und trat mit ihnen auch Mitte der 1930er Jahre zusammen auf. Später war sie tragischerweise nach einem Busunfall schwerbehindert und an ihre Wohnung gefesselt und starb 1960.

Sis Cunningham und Ronnie Gilbert
In der linken Folkbewegung wie in den Gewerkschaften waren Frauen schon früh mit tonangebend. So war Sis Cunningham – Sprössling einer armen Farmersfamilie in Oklahoma – bereits in den 1930ern als Lehrerin und Gewerkschafterin, als Mitbegründerin des Broadside Magazins sowie als Sängerin von Folk und Protestsongs fester Bestandteil der Greenwich Village-Szene und war auch Mitglied der Alamanac Singers. Oder Ronnie Gilbert, Folksängerin und Mitglied der „Weavers“, die 1948 von Pete Seeger gegründet wurden und 1950 als erste Folkband einem größeren Publikum bekannt wurden. Doch die Gruppe wurde Opfer der antikommunistischen McCarthy-Umtriebe und löste sich 1952 auf.
In der kommerziellen Countrymusik, die das Alltagsbewusstsein der Menschen im Süden ansprach, sollte es noch bis in die frühen 1950er Jahr dauern, ehe das traditionelle Rollenverständnis, das im zweiten Weltkrieg ja schon erodiert war, erste Risse bekam und Countrysängerinnen nicht mehr nur hübsche Beigabe für Country-Acts waren, sondern selber zu Countrystars aufstiegen. Davon erzählt dann der zweite Teil meiner Serie in der nächsten Key West-Ausgabe.
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