Bob Dylan und One Too Many Mornings – harmonische Entwicklung einer Liebesballade durch die 60er und 70er Jahre

von Richard Limbert

Was macht Bob Dylan so spannend? Ich denke, es ist seine Wandelbarkeit. Bob Dylan ist nicht zu fassen und trotzdem immer präsent. Dylan hat etwas Fata Morgana-artiges. Wie schreibt es Bono bereits in einem Text für die Rolling Stone über die Singstimme Dylans? : „Eine Stimme wie Rauch, von Zigarren oder Weihrauch, voller Geheimnis und Andacht. Eine Stimme für jeden Dylan, der dir begegnen kann, und das ist auch der Grund, warum Bob Dylan mich niemals langweilt – weil es so viele von ihm gibt und alle irgendwie als Pilger unterwegs sind.“ (Quelle: Hier). Ich bin seit einigen Jahren nach wie vor Dylan-Fan und ich denke, es ist dieses ständig Neue und trotzdem Mysteriöse, das mich an ihm anzieht. Seine verschiedenen Song-Arrangements waren es schließlich, die mich voll von ihm überzeugten. Ein Song war für mich da immer ganz spannend: One Too Many Mornings. Recht oft spielte Dylan dieses Stück live, trotzdem hatte es als bedächtige Liebesballade nie die mystische Anziehungskraft eines Visions of Johanna oder die krasse Energie eines Like A Rolling Stone. Für mich war One Too Many Mornings für Dylan immer das Stück zum Sich-ausprobieren. Deshalb würde ich mir dieses Lied im Laufe der 60er und 70er gerne genauer anschauen.

Ich habe zwischen 2013 und 2020 Musikwissenschaft an der Universität Leipzig studiert. Hugo Riemann, der Gründer des Instituts war quasi Vater der harmonischen Funktionstheorie. Ich will meinem ehemaligen Institut gern die Ehre erweisen und auch in der Key West öfter mal Bob Dylan funktionsharmonisch unter die Lupe nehmen (wie man in diesem Text über die harmonischen und lyrischen Verbindungen zwischen Like A Rolling Stone und Where Are You Tonight? z.B. sehen kann). Und doch will ich auch andere ästhetische Faktoren wie Tempo und Besetzung mit in die Analyse nehmen. Schauen wir also, wie sich der Song zwischen 1964 und 1978 entwickelt hat. Die meisten der Akkorde habe ich von der Bob Dylan Akkord-Database dylanchords.com.1

One Too Many Mornings – Was ist das überhaupt harmonisch?

Die Basis unserer klassischen Harmonielehre bildet die Lehre von Harmoniestufen. Die einfache Dur-Tonleiter C-D-E-F-G-A-H-C wird dabei mit Nummern ausgestattet. Also C=I, D=II, E=III usw. Wenn man nun jeden Ton mit seinem Akkord ausstattet, hat man da schon ein System mit dem man die Harmoniestufen beschreiben kann. Ganz wichtig sind hier die Stufen I (Grundakkord, auch Tonika), IV (4. Stufe, auch Subdominante) und V (5. Stufe, auch Dominante). In sehr vielen Musikstücken und Songs der westliche Kultur spielen diese Stufen eine große Rolle. Und das kommt nicht von ungefähr: Die 5. Stufe hat eine sehr spannungsgeladenee Auflösungstendenz zur Stufe 1. Sie will quasi immer zur 1 zurückführen. Und was die 5 zur 1 ist, ist die 1 zur 4. Man sieht das, indem 3 Tonschritte zwischen G und C liegen und wieder 3 Tonschritte zwischen C und F. Im Prinzip kann man sagen: Die Stufe 1 will zur Stufe 4 und die Stufe 5 will zu Stufe 1. Was heißt das jetzt im Zusammenhang mit One Too Many Mornings?

Gerade im Folk und Blues spielen diese drei Stufen eine sehr große Rolle. Ein einfaches Stück zu schreiben, das trotzdem nicht langweilig wird ist mit diesen 3 Stufen leicht möglich. Bob Dylan als großer Fan des Country-Blues und von einfachen Arbeiterballaden hat sich da weitgehend an seine musikalischen Vorbilder gehalten. Von Mr. Tambourine Man bis Desolation Row, von Blowin‘ In The Wind bis Visions of Johanna: viele seiner Songs bestehen aus den drei Hauptstufen. Wie setzt Dylan hier diese Stufen in One Too Many Mornings ein?

In seinen Grundzügen ist One Too Many Mornings ein Stück, das in jeder Strophe aus 4 Phrasen besteht:

  1. Down the streets the dogs are barking and the day is getting dark
  2. As the night comes in a-falling, the dogs will loose their bark
  3. And the silent night will shatter from the sounds inside my mind
  4. As I’m one too many mornings, and a thousand miles behind

Jede diese Phrasen steht nicht komplett für sich alleine, ist aber eine abgeschlossene Aussage. Bob Dylan navigiert uns hier in gewohnter und trotzdem poetischer Form durch diese 4 Phrasen, indem er immer bei der Grundtonart beginnt. Die erste Phrase beginnt mit Stufe I und variiert nur leicht über IV zurück zu I. Die 2. Phrase – As the night comes in a-falling, the dogs will loose their bark – beginnt bei Stufe I, endet dann jedoch auf der Stufe V, wo sie erstmal verweilt. Sie wartet ganz ungeduldig auf Auflösung. Sie löst sich schließlich am Anfang von Phrase 3 in Stufe I auf und geht wieder über Stufe IV (wie auch Phrase 1) zurück zur I. Und als Konklusion und quasi Erinnerung an die Unaufgelöstheit von Phrase 3 geht Phrase 4 ebenfalls von Stufe I auf Stufe V, allerdings immer um sich beim Wort „behind“ wieder in Stufe I aufzulösen. Das ist ganz klar die Grundstruktur von One Too Many Mornings und ist in der Regel felsenfest so bei Dylan zu finden. Er variiert diese Grundtektonik fast nie bei seinen Live-Versionen und anderen Studioaufnahmen. Natürlich ist das so eher scherenschnittartig dargestellt. Aus dieser Grundstruktur lässt sich einiges machen.

Die Frage ist aber nun: was macht Dylan mit diesem Song harmonisch sonst? Wie umspielt (oder auch vereinfacht) er One Too Many Mornings durch die 60er und 70er Jahre und in welchem Kontext passiert das?

Schauen wir uns die einzelnen Versionen an:

Die Studioversion auf The Times They Are A-Changing, 1964

Hier hören wir One Too Many Mornings chronologisch auf offiziellen Releases zum ersten mal. Und was hören wir da? Dylan spielt den Titel als eine sehr langsame, gefühlvolle Liebesballade. Das Besondere ist: er benutzt hier ein spezielles Tuning, es ist in Open A. Bob Dylan benutzt, wie das im Folk-Fingerpicking eben öfter vorkommt, hier und da gerne offene Stimmungen (wie z.B. das Open D/E-Tuning, das er vor allen Dingen auf Blood On the Tracks (wieder-)entdeckt)). Die offene Stimmung in A ist bei ihm aber selten und kommt nur in seiner früheren Folk-Phase Anfang der 60er vor (der einzige andere Song mit dem Tuning ist Witchita Blues).2 Allein klanglich hat diese Spielweise also schon viele offene Saiten und lässt alles offener, wie im Bordun-Ton, klingen.

Harmonisch sieht man hier schon einen Kniff, den Bob Dylan bei diesem Stück sehr oft einsetzen wird: den Weg von Stufe I auf IV in der ersten Phrase macht er via einen Übergangsakkord, der Stufe III. Harmonisch klettert er also die Leiter zur IV etwas hoch. Das Interessante: er macht im Bass hier eine Abwärtsbewegung. Er nimmt einzelne, nächst-tief gelegene Töne der jeweiligen Akkorde III und IV um den Lauf im Bass nach unten zu schreiten. Hier geht er sogar so weit, dass er beim Ankommen zurück auf Stufe I auf einem anderen Ton landet, als den Grundton. Beim Anfang der 2. Phrase („As the night comes in a-fallin“) geht er sogar, obwohl der selbe Akkord, noch weiter mit dem Grundton runter. Auch ein schönes Mittel um die einfallende Nacht melodisch darzustellen. Beim Ankommen auf Stufe V spielt er eher einen verzierten Akkord, der durch einen hinzugefügten Ton nicht so ganz glasklar als auf die Tonika strebende Dominante zu erkennen ist und eher nachdenklich wirkt. Er geht immer mal wieder zurück auf die Stufe I um dann wieder zur V zu werden. Die dritte Phrase ist dann harmonisch genau so mit ablaufendem Bass und steigender Harmonik gestaltet wie Phrase 1. Phrase 4 ist schließlich durch einen I-Akkord geprägt der im Bass einen kleinen Lauf hat, der durch einen Sprung hoch und zwei kleine Schritte runter den Gesang etwas imitiert. Der wichtige Schritt der erwarteten Auflösung von I V auf I kommt hier eher wieder schnell und umspielt durch die gleichen Wendungen auf Stufe V wie bei Phrase 2.

Schlussendlich ist diese Version eine harmonisch etwas verzierte Version mit einigen kleinen Kniffen, die trotzdem langsam und nachdenklich wirkt, wie ein leise tickendes Uhrwerk das man selbst nicht ganz versteht. Alles geschaffen durch klassische Folk-Techniken von Fingerstyle-Spiel, veränderter Gitarrenstimmung und spannenden kleinen Melodie-Wendungen in der Begleitung. Ein schönes Beispiel wie Bob Dylan 1964 schon das Alte und Neue verbinden konnte.

Die Live-Version von 1966

Nun hat Bob Dylan zwischen 1964 und 1966 seine Spielart von One Too Many Mornings schon stark verändert. Aus einer offenen Stimmung wurde live 1965 schon eine ganz normale Stimmung und auch die Tonart wechselt in das leicht zu spielende G-Dur. 1966 spielt Dylan den Titel ganz klar rockig mit seiner Backing-Band. Treibendes Schlagzeug und kreischende E-Gitarre sind hier im Vordergrund und machen das Stück allein Klangästhetisch schon zum heraus-geschrienen Brecher. Natürlich war da auch viel Innovation und Provokation dabei.

Harmonisch hält das Stück sich auch weiter an dem Durchgangsakkord Stufe III fest. Hier hat Dylan mit Band aber einiges vereinfacht und nicht nur leichter spielbar, sondern viel selbstsicherer gemacht: Im Bass von Rick Danko hört man hier ganz klar ein ebenfalls steigendes Thema um auf Stufe IV zu kommen. Ganz plakativ klettert die ganze Band hier also die Stufe hoch. Ansonsten bleibt bis zum Ende der Strophen alles gleich. Doch hier setzt Dylan eine neue Art ein, den Fall der Dominante auf die Tonika anders zu akzentuieren: er geht von I auf IV auf I zurück als er das Wort „Miles“ singt. Dann geht kollektiv das Ensemble auf Stufe V um dann ganz demonstrativ, unterlegt vom Harmoniegesang Rock Dankos, sehr alleinstehend das Wort „behind“ zu singen und dann zurück auf die Grundtonart zu gehen.

Live 1966 spielt Bob Dylan mit dem Arrangement des Stückes schon ein wenig und zeigt, dass er den Song auch als Rock-Titel spielen kann. Die einfachere Schiebung von I auf III auf IV ist da passend und eingängig. 1966 war Bob Dylan schon ziemlich ausgebrannt und hat sich von vielen und vielem abgekapselt. Das sehr alleinstehende „behind“, das auch harmonisch seine eigene Phrase darstellt, ist da ein schönes rhetorisches Mittel, das dem Titel hier seinen Kniff gibt. Wobei das vielleicht auch etwas überinterpretiert wäre.

The Basement Tapes – Dylan probiert Americana mit One Too Many Mornings, 1966-1969

Nach 1966 versucht sich Bob Dylan wieder einmal neu zu erfinden. Zusammen mit den Musikern die später mal The Band werden sollten, spielt er viele Stücke ein. Von neuen Kompositionen bis alten Volksliedern ist alles dabei. Einige seiner alten Songs spielt er hier. One Too Many Mornings ist auch dabei. Er singt es hier im Duett mit Richard Manuel. Manuel singt die 1. Strophe und Dylan Strophe 2 und 3. Ganz bedächtig im Marschrhythmus kommt es hier daher, ähnlich wie das I Shall Be Released in der The Band-Version. Das spannende ist, er macht hier am Ende trotz fehlendem Rock-Elan immernoch die selbe Wendung wie Live 1966 und auch sonst bleiben die Akkorde die gleichen. Außerdem hat die Version ein richtig cooles E-Gitarren-Solo mit kleinem Tonartwechsel. Insgesamt hat alles hier einen sehr passenden, balladesken Charakter, der super in das schummrige, bluesige Americana-Muster passt, das Bob Dylan in dieser Zeit strickt. Der Autor Alex Marshi beschreibt sogar, wie Bob Dylan One Too Many Mornings hier erst richtig entdeckt. Er findet hier den richtigen Sound. Marshi beschreibt es als: „It was a rearrangement waiting to happen. So in the safety of the basement, and with some help from The Band, ‚One Too Many Mornings‘ was reborn into the song it was always meant to be“. 3

Im Studio mit Johnny Cash 1969

Im April 1969 trafen sich zwei Giganten im Studio: Bob Dylan und Johnny Cash. Sie singen auch One Too Many Mornings. Beide wechseln sich in den Strophen ab. Und hier sieht man den Song in einem ganz neuen Licht. Zum ersten mal wird sich hier, ganz im Stil der einfachen Country-Balladen, wirklich auf die Haupt-Akkorde begrenzt. Erst Stufe I und IV und I, dann I und V, dann wieder I und IV. Nur bei der letzten Wendung spielen sie, wie Dylan auf der Isle of Wight ein paar Monate später, I-IV-V und gehen zurück auf die I. Ganz witzig ist hier, dass die Tonarten wechseln, je nachdem, wer gerade die Strophe singt. Für Johnny Cash war das G-Dur in dem Dylan singt wohl etwas zu hoch. Und diese Änderung der Akkordstruktur war wahrscheinlich kein purer, spontaner Einfall von Bob Dylan. Cash hat den Song bereits für sein Folk-Inspiriertes Album Orange Blossom Special von 1965 aufgenommen (wurde aber nicht veröffentlicht). Da spielt er den Song genauso. Es ist hier wirklich eine ganz klassische Country-Ballade mit einfacher Harmonik. Und das passt den beiden irgendwie ziemlich gut.

Live 1969 auf der Isle of Wight

Vier Monate Später, im August 1969, spielt Dylan nach dreijähriger Pause erstmalig wieder live seine eigenen Stücke. Viele davon arrangiert er hier rabiat um, wie z.B. It Ain’t Me, Babe. Was darf hier nicht fehlen? Richtig: One Too Many Mornings. Hier bedient sich Bob Dylan einem weiteren Kniff: er spielt die Strophen in doppelter Geschwindigkeit. Aus dem 4/4-Takt wird ein 2/4-Takt. Die Akkorde bleiben gleich, auch wieder mit der Stufe III als Übergangsharmonie. Den Refrain spielt er aber in der alten Geschwindigkeit. Ein schöner, Wogen-hafter Country-Swing kommt auf. Im Zusammenspiel mit dem Refrain und dem Zwischenspiel wirken die Verse mehr eingeworfen und weniger gewählt. Und ganz wichtig: Dylan stellt die Stufe V hier im neuen Kontext dar. Es wird eine ganz klassische Kadenz aufgemacht: I-IV-V zurück zur I. Das ist im Country ganz üblich und wirkt gleich sehr sanglich. Ähnlich wie live 1966 begleiten ihn beim gesungenen Titel des Stücks am Ende jeder Strophe die Musiker von The Band mit einem Hintergrundchor. old habits die hard. Man kann fast schon hören wie die Menge mitgröhlt.

Live 1974

Für diese kleine Analyse habe ich mir Hilfe von einem meiner persönlichen Helden herangezogen. Seitdem ich als Teenager immer alle Versionen von Bob Dylan-Songs auf Gitarre spielen wollte, war ich schnell ein Süchtiger des Blogs dylanchords.com, der vom Norweger Eyolf Østrem betrieben wird und nun wirklich fast alle Versionen ein und desselben Dylan-Songs als Tab oder Akkordstruktur beinhaltet. Stundenlang habe ich da einfach nur nach Titeln gesucht und hatte meinen Spaß sie in allen Varianten vor meinem Schreibtisch selbst nachzuspielen. Das Rolling Stone Magazine hat die Seite schon lobend erwähnt und ich bin sicher, es gibt ein weltweit umspannendes Netz an Dylan-affinen Musiker*innen, die durch diesen Blog schon so manches Livekonzert gemeistert haben. Zur Recherche habe ich mich an Eyolf Østrem selbst gewandt, der mir freundlicherweise weiterhelfen konnte.

Ja, Bob Dylan hat One Too Many Mornings sogar einmal live auf der Tour mit The Band 1974 gespielt. Am 16.1. in Largo in Maryland. Der Song ist hier in C gespielt und irgendwie eine Mischung aus Ballade und Rock-Titel. Das Arrangement ist dabei ganz ähnlich wie Live 1966 und bei den Basement-Tapes mit der Stufe III als Durchgangsakkord. Es ist nicht alles gut rauzuhören und das Arrangement ist nicht konsequent. Aber diese sehr spannungsgeladene Stufe V in Phrase 2 wird hier recht dramatisch mit einem Abwärtslauf von V zu IV zu III zu II und zurück zu I verziert. Und diese harmonischen Abwärtsläufe gehen weiter: die letzte Zeile hat einen recht spannungsarmen aber bewegten Ablauf. Østrem schreibt mir dazu: „The last line is played C-Em-F-Dm-C, or sth like that.“ und „The last line varies; in the Band’s solo verse, it’s a clear G before the last chord, but when Dylan sings, they play a pronounced D, either as the first note in a D-G turn before the return to C, or as a subdominant parallel (Dm) as a replacement for the dominant (G), just as in Simple Twist during the 1975 tour.“4 Prinzipiell ist die Nutzung (oder besser gesagt: Nicht-Nutzung) des Dominantseptakkord bei Bob Dylan in seinen Texten ein wichtiges Thema. Hier hat er einen wundervollen Text dazu geschrieben, der auch mich inspiriert hat, hier genauer hinzuhören. Kurz: Dylan hat seine Wege, um die Spannungsgeladene Dominante nicht inflationär einzusetzen. 1974 wurde das durchgeführt.

Live 1976 – Die Hard Rain-Tour (zweiter Teil der Rolling Thunder Revue)

Auf der Rolling Thunder Revue 1975 und 1976 spielt die Backing Band Bob Dylans in seinen Arrangements live eine fundamentale Rolle. Den Aussagen Rob Stoners (Bassist der Rolling Thunder Revue) nach, sind diese Arrangements hier wirklich einem kollektiven Zusammenarbeiten Dylans mit seiner Band zu verdanken. Das macht diese Version von One Too Many Mornings für mich zu einem absoluten Liebling und den Grund wieso ich diesen Text hier überhaupt schreibe. In einer spannenden Tour de Force wandert Dylan und seine Band live 1976 hier in der G-Dur Tonart durch die verschiedenen Akkorde.

Der Song beginnt dabei ganz normal auf Stufe I. Doch begleitet von einem ablaufendem Bass geht es schon beim Wort „barking“ auf Stufe V und im nächsten Schlag gleich auf eine absolut heiße Stufe: Stufe III, allerdings als Dur-Version, die als Zwischendominante auf den Moll-Akkord der Stufe VI fällt. Phrase 1 ist also schon ziemlich anders. Phrase 2 beginnt dann gleich auf Stufe IV, geht zu I zurück und endet dann gewohnt auf der sehr stark akzentuierten Stufe V. Eine der schönsten Punkte ist hier, der sehr energiegeladene Abwärtsgang von V auf IV auf III und zurück auf V. Diese Wendung hat mich immer wegen seiner Dramaturgie fasziniert (ähnlich findet man sie auch in Tonight I’ll Be Staying Here With You von der Live-Version 1975). Der Sound der Rolling Thunder-Band passt einfach perfekt zu diesem Abgang. Ich wusste aber nicht, dass 1974 schon etwas ähnliches an dieser Stelle gemacht wurde. Phrase 3 ist wieder genauso aufgebaut wie Phrase 1 mit der kleinen Zwischendominante auf Stufe VI. Und auch danach geht es bei Phrase 4 wieder auf die Stufe IV, dann I. Jetzt wird allerdings die Stufe V (Dominante) nicht mehr eingesetzt, sondern einfach wieder der IV-I Wechsel gespielt während „And a thousand miles behind“ gesungen wird. Nur eine kleine Bassfigur Rob Stoners erinnert noch an die Dominante hier. An sich kracht und ächzt die Band hier an jeder Stelle, dass es einen nur freut. Die Dominante braucht es da gar nicht, die wurde in Phrase 2 schon genug akzentuiert.

Die Version von 1976 zeigt bisher ungekannte harmonische Spannungen in diesem Song, die ganz hervorragend von der Band aufgegriffen werden und super in den Show-Charakter der Rolling Thunder Revuew passen. Eine wundervolle Version.

Live 1978

1978 in Osaka/Japan hat Bob Dylan One Too Many Mornings übrigens auch einmal live gespielt. Harmonisch ist die Version allerdings so ziemlich identisch mit der Version von 1966. Nur wird die Dominante zum Schluss nicht so abgekapselt mit einem Zurückführen auf Stufe I vorbereitet, sondern in einer Phrase, die Phrase I sehr ähnlich ist, am Ende einfach angehangen und zum Schluss mit einem kleinen Basslauf zurückgeführt.

An sich ist diese Version vielleicht die sauberste. Aber auch die spannungs-ärmste. Irgendwie passt der Songs auf der einen Seite gut in sein Set von 1978, auf der anderen Seite hatte er da schon genug ähnliche Songs in petto, was villeicht erklärt, wieso er den Song auf dieser Tour nur einmal gespielt hat.

Schlussgedanken

Was kann man nun aus diesen harmonischen Kleinanalysen ziehen? Ich denke, es zeigt sich hier, dass Bob Dylan einem Song durch recht einfache Mittel eine eigene Farbe geben kann, die dazu auch noch gut zur Begleitband passen kann. Wie im Fall von Johnny Cash lässt er sich durchaus auf neue Versionen ein. Gleichzeitig sieht man auch, wie sich bestimmte Ideen weiterentwickeln, wie z.B. der Abgang von Stufe V zu IV zu III bei Phrase 2, die schon 1974 irgendwie versteckt vorkam. Auf der anderen Seite war die Version auf The Times They Are A-Changing 1964 im Studio schon eine sehr ausgeklügelte Variante, die Dylan recht schnell im Live-Kontext links liegen gelassen hat. Wahrscheinlich war der mit anderem Tuning einfach schwer live darstellbar. Da ist ein bisschen Poesie verloren gegangen. Aber der Song hat dafür durch die Jahre einen ganz neue Charakter bekommen und seine eigene Geschichte irgendwie weitererzählt. Er wurde damit nicht in Eisen gegossen. Ganz typisch Dylan.

Zum Schluss ist hier noch ein Video, in dem ich die Versionen von 1964, 1966, 1969 (Isle of Wight), 1969 (mit Johnny Cash) und 1976 kurz nacheinander einspiele um Gemeinsamkeiten und Unterschiede klar zu machen. Ich habe hier deshalb auch alles in der selben Tonart gespielt.


1https://dylanchords.com/03_times/one_too_many_mornings

2Quelle: https://dylanchords.com/content/openalternate-tunings

3https://medium.com/bob-dylan/one-too-many-mornings-finds-the-right-sound-fd4ce945b61a

4FB-Messengerverkehr mit Eyolf Østrem vom 11.2.2024.

Ein Kommentar

Hinterlasse einen Kommentar