Das American Folk Blues Festival, vom Blues Revival der 60er zu den Stadion-Konzerten der 80er Jahre

von Richard Limbert

Es schlug ein wie ein Geschoss aus einer anderen Galaxie. Es war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und nahm keine Gefangenen; Das American Folk Blues Festival tourte seit 1962 durch Europa und zeigte viele Vertreter der Country Blues des US-Südens zum ersten mal auf europäischen (und vor allem bundesrepublikanischen, französischem und englischem) Boden. Es war genau da, wo die richtigen Jugendlichen bereits seit Jahren genau nichts anderes im Kopf hatten als urtümlichen Blues: Mick Jagger, Bob Dylan und Jimmy Page hörten als junge Männer in Europa erstmalig Big Joe Williams, Sonny Boy Williamson und andere Größen live. Musiker von denen sie teilweise dachten, sie wären seit Jahren tot standen in Fleisch und Blut vor ihnen auf der Bühne. Kaum ein Zuschauer oder eine Zuschauerin blieb unbeeindruckt von dieser geballten Blues-Power die da über Europa rollte.

Organisiert wurde das Festival von der legendären deutschen Konzertagentur Lippmann+Rau, gegründet erst 1963 von Horst Lippmann und Fritz Rau. Doch beide Veranstalter agierten bereits seit den 40er/50er Jahren aktiv im deutschen Konzertgeschäft. Ich bin seit April 2022 Archivar im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach und ich will in diesem Text gerne zeigen: wie schlägt sich das American Folk Blues Festival in den Sammlungen unseres Archivs nieder. Ein Tauchgang zwischen verstaubten Akten und obskuren Tonbändern.

Die Horst Lippmann-Sammlung im Lippmann+Rau-Musikarchiv

Was ist das überhaupt mit dem Lippmann+Rau-Musikarchiv und der Horst Lippmann-Sammlung? Das Lippmann+Rau-Musikarchiv ist ein 1999 in Eisenach gegründetes Musikarchiv, dass sich mit allen Spielarten der Popmusik im Deutschland des 20. Jahrhunderts befasst. Auf knapp 2000 laufenden Metern wird hier von Tanzmusik der Weimarer Republik, den Dokumenten zu Jimi Hendrix in Stuttgart 1969 zu DDR-Jazzclubs eine ganze Breite an Dokumenten, Fotos und Tonträgern abgebildet. Elementar sind hier die Sammlungen des Jazz-Netzwerkers und Pianisten Günter Boas und die Sammlungen der Konzertagentur Lippmann+Rau, die die Sammlungen der beiden Gründer Fritz Rau und Horst Lippmann beinhalten. Getragen wird alles von der Lippmann+Rau-Stiftung, die das Erbe der Agentur bewahrt und in dessen Kuratorium unter anderem Udo Lindenberg und Wim Wenders sind. Seit April bin ich hier zusammen mit meinem Kollegen Simon Bretschneider Archivar und bringe Ordnung in die noch weitgehend nicht katalogisierten Sammlungen. Eine spannende Aufgabe. Vor allem habe ich mich bisher mit den Sammlungen von Horst Lippmann (1927-1997) und Fritz Rau (1935-2013) beschäftigt.

Die Sammlung Horst Lippmann befindet sich sehr prominent mittig im Hauptraum des Archivs. Mit knapp 50 Ordnern à 200-500 Dokumenten haben wir hier über 15.000 Dokumente. Und was für welche! Hier finden sich Geschäftskorrespondenzen, private Briefe, Produktionsnotizen, Zeitungsartikel und anderes rund um Lippmann+Rau. Das sollte jedoch nicht zu optimistisch gesehen werden: Lippmann hat zwar genau auf die Archivierung seiner Dokumente geachtet, allerdings hat er hier im Grunde nur die Dokumente des von ihm gegründeten Agentur-Labels L+R Records behalten. Bereits in den 60er Jahren zog sich Lippmann mehr und mehr aus dem aktiven Konzert-Business zurück und überließ hier Fritz Rau das Feld. 1979 gründete er schließlich das Label um sich seiner Passion, dem Blues und dem Entdecken unbekannter Musiker, zu widmen. Deshalb sind die meisten Dokumente hier aus den 80er Jahren. Ein verzerrtes Bild ist hier also definitiv von vornherein anzunehmen. Aber machen wir uns hier keine Illusionen: Geschichte ist immer ein Prozess, der im Nachgang entsteht. Nur durch die Betrachtung einer Vorauswahl kann ein Narrativ geschaffen, Geschichte wirklich erzählt werden. Und diesen Querschnitt haben wir eben durch die Struktur der Lippmann-Sammlung, wie sie vor uns liegt. Dazu besteht die Horst Lippmann-Sammlung aus knapp 250 Tonbändern. Eine Digitalisierung dieser steht uns im Archiv noch bevor, aber durch die Aufschriften kann man zum Glück erahnen was den Inhalt ausmacht. Die Sammlung kam im Laufe der 2000er Jahre durch Horst Lippmanns Tochter, Sylvia Lippmann stückweise ins Archiv. Wie viel der Korrespondenzen Lippmanns noch an anderen Stellen schlummern ist nicht ganz bekannt. Das Stadtarchiv der Stadt Frankfurt am Main hat jedenfalls noch eine wesentlich kleinere Lippmann-Sammlung, die hier ergänzend hinzugezogen werden kann. Vor allem das American Folk Blues Festival ist hier in Eisenach aber in vielen Facetten abgebildet. Grund genug ein wenig genauer hinzuschauen, auf welche Weise man hier das so einflussreiche Festival dargestellt sieht.

American Folk Blues ist nicht gleich American Folk Blues

Was hier auffällt ist auf jeden Fall: das American Folk Blues Festival war ein Kind der 60er Jahre. Ab 1970 wurde es schnell sehr still um das Festival. Klar: Udo Lindenberg, Queen, ABBA: die ganz großen Acts wurden plötzlich im Portfolio von Lippmann+Rau sehr wichtig. Jetzt wurden Stadion-Konzerte organisiert. Auch Bob Dylan war 1978 dabei und spielte in der Bundesrepublik seine bombastische Arragements mit Gospel-Sängerinnen in Dortmund, Berlin und Nürnberg. Ganze Bühnenkonstruktionen wurde hier im Vorfeld aufwendig gebaut. Eine Zeit über die Fritz Rau gerne ausführlich berichtete. Horst Lippmann hat sich zu dieser Zeit zurückgezogen. Gesundheitlich ging es ihm damals schlecht. Ein wenig hypochondrisch war er damals auf jeden Fall, aber er hatte pausenlos tatsächlich irgendwelche körperlichen Gebrechen. Dazu kam hoher Alkoholkonsum und ein stetiges Verfremden mit seinem Geschäftspartner Fritz Rau. Für urigen US-Blues war da kein Platz. Ab den 80er Jahren kann man nach einer Selbstfindung Lippmanns geradezu von einer Wiedergeburt des American Folk Blues Festivals durch Lippmann sprechen. Es ist kein Zufall, dass gerade hier Lippmann das Label gründete: es war ein Art Versuch wieder die Stärken seiner Arbeit in der Agentur zu betonen und Back in Business zu sein. Was wir hier sehen, ist allerdings ein anderer Country Blues.

Die Dokumente der 60er Jahre sprechen eine andere Sprache als die der 80er Jahre. Die 60er haben hier einen sehr pädagogischen Anspruch. Schaut man sich die Dokumente aus den 60er zum Festival an, zeigt sich oft der Versuch den Blues als Musikrichtung überhaupt erst zu erklären: hier haben wir Regieanweisungen zu Fernsehproduktionen, die klar angeben, dass der Moderator, der legendäre Joachim-Ernst Berendt, die Texte ins Deutsche übersetzen soll. In einem Beitrag des WDR von 1967 sieht man, wie – aus heutiger Sicht etwas steif – Siegfried Schmidt-Joos Skip James und sein Lebensumfeld in aller Ruhe dem Publikum beschreibt. Auch in den Programmheften schlägt sich das nieder. Im Heft zum American Folk Blues Festival 1963 wurde vom Hausgrafiker Günther Kieser sehr pittoresk in grafisch ausladenden Darstellungen seitenweise die Welt des US-Südens mit auf dem Lande arbeitender Bevölkerung, ratternden Dampflokomotiven und urigen Banjos dargestellt. Hier war viel Raum für Assoziation. Die einzelnen Musiker und Musikerinnen kamen erst im Nachgang dazu. Die Fotos zeigen hier auch: Organisation und Transport der Musiker war ganz familiär und persönlich. In den 60ern kamen alle Musiker in einem Flugzeug aus den USA an, Bilder der Ankunft zeigen eine versammelte Truppe. In Beiträgen aus den 60ern sieht man, wie allesamt im Bus von Konzert zu Konzert gefahren werden. Da sitzen Magic Sam, Juke Boy Bonner und John Jackson neben Earl Hooker und erzählen. Die Konzerte fanden damals allerdings schon auf recht großen Bühnen und in ganz Europa statt. 1962 gibt es nach einer ausgiebigen Tour durch die BRD nach Paris und Manchester. 1963 war auch Belgien, Österreich, Dänemark und wieder das Vereinigte Königreich mit dabei. Die Musiker und Musikerinnen kamen rum. Und so ging es weiter. 1964 war sogar die DDR und Polen auf dem Plan, also war der Eiserne Vorhang nun auch kein Hindernis mehr. Der Blues wurde eben immer erfolgreicher. All das zeigt sich im Archiv. Hier gibt es ausgestellte Checks an die Künstlerinnen und Künstler und ein stetiger Austausch zwischen Lippmann und den Managements der USA. Dazu eine Korrespondenz mit einem Promoter, der Lippmann Lonnie Johnson, Little Walter, Sonny Terry, Brownie McGhee und T-Bone Walker nebenbei als Künstler für das American Folk Blues Festival anbietet. Hier kann man förmlich sehen wie Musikgeschichte geschrieben wird.

Der Blick auf die American Folk Blues Festivals der 80er Jahre ist da schon differenzierter. Hier kann man tatsächlich in kleineren Schritten die Organisation der Festivals beobachten. Mit all seinen Hochs und Tiefs. Verkaufsschwierigkeiten der Tickets, Beschwerdebriefe von Zuschauern und ein kritischer Bericht im Blues Forum vom Autoren Friedrich Klemme stehen neben Lobeshymnen der Presse, Dokumenten zu Albumproduktionen und netten Zuschauerbriefen. Man hat hier eher den Eindruck die ganze Bandbreite der Organisation eines so großen Festivals vorliegen zu haben. Spannend ist hier zum Beispiel ein Brief der Tochter einer Blues-Musikerin die im Rahmen des American Folk Blues Festivals der 80er Jahre auftreten soll. Sie sei essentiell für die Betreuung ihrer in die Jahre gekommenen Mutter, hat aber eine Anstellung als Lehrerin in Kalifornien, wo gerade massiver Lehrermangel herrscht. Nun brauche sie von Lippmann+Rau ein Schreiben, das bestätigt, dass sie für ein Wochen von ihrem Lehrerjob Urlaub nehmen muss um der wichtigen Aufgabe der Tour-Betreuung ihrer Mutter nachkommen zu können. Ein Schreiben, dass die Sekretärin der Agentur gerne ausstellt. Solche Geschichten schreibt das American Folk Blues Festival. Man merkt aber, dass das Mache von Konzerten in den 80er Jahren ein anderes Geschäft geworden ist. Nun gilt es, die Werbetrommel eloquent zu rühren, den Musikern und Musikerinnen eine gewisse, auch finanzielle, Sicherheit zu geben und vor allem dem Publikum gerecht zu werden. Nachdem man mit Eric Clapton und anderen Gitarrengöttern im Laufe der 70er Jahre auch in der BRD große Bluesrockkonzerte hatte, war eine fahrende Tour mit Country Bluesern und Bluerinnen etwas, dass immer weniger die Deutschen hinter dem Ofen hervorlocken konnte. Da mussten schon ganz andere Saiten aufgesponnen werden. Unter anderem sieht man das an Versuchen den Blues wieder populär zu machen, indem Fritz Rau im Vorprogramm zu Bob Dylan in Nürnberg zum Beispiel den in Hannover lebenden Champion Jack Dupree auf der riesigen Bühne auf dem Zeppelinfeld spielen ließ.

Beschwerdebrief (aus Archivalie LRA-101-10) eines American Folk Blues Festival Besuchers von 1980 aus dem Lippmann+Rau-Musikarchiv

Auch sehen kann man das in der Tonbandsammlung. Wo vorher, natürlich auch zur späteren Verwertung, Aufnahmen der Konzerte der American Folk Blues Festivals der 60er Jahre gemacht wurden, waren die Tonbänder der 80er Jahre schon mit einem größeren Fokus auf die Bewerbung der Festivals geplant. Einige Tonbänder enthalten Aufnahmen aus dem Vorfeld der Festivals um sie zu Werbezwecken für die Festivals spielen zu lassen.

Der Blues hat sich auf jeden Fall gewandelt und der aufrührerische Anti-Establishment Geist der 60er Jahre war mittlerweile verflogen. Lippmann+Rau ist hier jedoch kein Vorwurf zu machen. Ganz im Gegenteil: Horst Lippmann hat hier ganz klar versucht nach einer Zeit des persönlichen Stillstands wieder Leben in die Welt des urigen Blues zu bringen.

Ein Blick hinter die Kulissen der Musikgeschichte

Durch solche Sammlungen wie der Horst Lippmann-Sammlung im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach sind Einblicke möglich, die sonst schwer zu erhaschen sind: authentische Dokumente aus der Zeit als Musikgeschichte geschrieben wurde. Vor allem im Umfeld um Key West finden sich viele sehr an Musikgeschichte interessierte Hobbyforscher, Musikbegeisterte und Interessierte der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Diese Narrative, die man als so jemand in sich trägt sind in den meisten Fällen aus der eigenen Biografie aber vor allem auch durch Sekundärquellen geprägt. Wie oft kommt es noch vor, wirklich und ganz greifbar, originale Dokumente rund um Blues in den 60er bis 80er Jahren in der Hand halten zu können? Gerade deshalb sind solche Archive wie das Lippmann+Rau-Musikarchiv so wichtig: sie umgehen festgetretene Geschichtsnarrative und zeigen wie auch in Deutschland Musikgeschichte geschrieben wurde. Das Archiv ist für Interessierte geöffnet. Kontaktieren Sie uns also gerne, wenn auch sie als Taucher in die Welt der Musikgeschichte auf der Suche nach originalen Dokumenten sind.

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