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Song-Archetypen von Bob Dylan durch die Jahrzehnte: Senor (Tales of Yankee Power) und Where Are You Tonight? (Journey Through Dark Heat)
von Richard Limbert
Street Legal ist ein Album der Unsicherheiten. „Do you love me, or are you just feeling guilt?“, „Where are you tonight?“, „Can you tell me where we’re heading? Lincoln Country Road or Armageddon?“ in diesem Album, das zu Krisenzeiten Dylans zwischen Tour und Angel und Scheidung aufgenommen wurde hagelt es nur so an Fragen. Und hin und wieder gibt es ein paar dramatische Beschwichtigungsversuche wie „Baby, please stop crying“ und „We better talk this over“. Es klingt wie direkt aus einem Ehestreit genommen. In diesem etwas erdrückenden Album eines erwachsen-gewordenen Bob Dylan gibt es zwei Songs, die ich mir hier besonders gerne angucken würde: Senior (Tales of Yankee Power) und Where Are You Tonight? (Journey Throught Dark Heat). In diesen beiden Songs schlummert nämlich etwas ganz besonderes: Eine Weiterführung alter, bereits bekannter Song-Archetypen bei Bob Dylan, die sich allerdings in wichtigen Punkten verändert haben.
Dylans neuer Sound: Street Legal als Kind der Krise
Bei Dylan hat sich zwischen der Zeit der ersten großen Erfolge Anfang und Mitte der 60er Jahre und den späten 70ern vieles getan. Bob Dylan steht vor seiner kaputten Ehe mit Sara Dylan, mit der er von 1965 bis 1977 verheiratet war, dem finanziellen Abwärtskurs nach einigen Fehlinvestitionen und nach seinen Erfolgen der letzten beiden sehr folkigen Alben Blood on the Tracks und Desire weiß er stilistisch nicht ganz, wo er hin will. Kein Wunder, dass der 37-Jährige ein wenig in der Krise steckt. Dazu stirbt 1977 noch sein großes Idol Elvis. Dylan nimmt mit Street Legal ein Album auf, dass mit Blechbläsern, großer Besetzung und Gospel-Backgroundsängerinnen eine Hommage an Elvis‘ Bühnenshows der 70er darstellt, einen reiferen Sound schafft und dazu in die großen Stadien passt, die er auf der Welttournee 1978 bespielen soll.
Fragen sind in Bob Dylans Songs seit Anbeginn eines seiner wichtigsten Stilmittel. Sein erster großer Hit, Blowin‘ in the Wind besteht quasi nur aus Fragen, A Hard Rains-A Gonna Fall beginnt in jeder Strophe mit einer Frage. Allein im Album The Freewheelin‘ Bob Dylan stecken 32 Fragen. In diesem frühen Album sind es meist Fragen, die sich ein junger in einer Gesellschaft im Aufbruch Mann stellt. Fragen zur Gesellschaft („What do you think about that my friend?“ in der Beschreibung der Unruhen in Oxford/Mississippi), Fragen über sich selbst („How do I look?“ in I Shall be Free), Fragen über die nächsten Schritte („What’ll you do now?“ in A Hard Rains-A Gonna Fall). Nashville Skyline von 1969, das schon viel gesetzter anklingt hat nur 8 Fragen, in Street Legal sind es schon 24. Welche Fragen werden also in Where Are You Tonight und Senior gestellt? Und wo sieht man Anschlusspunkte an das Werk des jungen, kindlicheren Dylans?
Where Are You Tonight? (Journey Throught Dark Heat): die Reise des Protagonisten
Where Are You Tonight ist ein Song, der allein durch seine Dimensionen heraussticht. Er ist zwar nur der drittlängste Song auf Street Legal, aber wirkt durch seine mysteriösen bildhaften Beschreibungen voller Symbolik (z.B. „There’s a lion in the road, there’s a demon escaped /There’s a million dreams gone, there’s a landscape being raped“ in Strophe 2.) sehr lang und episch. Der Song wird von Bob Dylan selbst teilweise als Kampf gegen den inneren Feind beschrieben, er nennt viele markante Charaktere, die nur kurz vorkommen, beschreibt die Wendungen einer Liebesbeziehungen und beginnt am Ende von neu mit einem neuen Sonnenaufgang. Für mich ist dieser Song aus der Reihe des Dylan Songs-Archetyps die lange Reise des Protagonisten. Ganz klassisch aus der Folktradition genommen, beschreibt Dylan in seinem Werk ganz gerne lange Coming of Age Reisen, meistens in Verbindung mit einer Liebesgeschichte samt Auf und Abs.
In Where Are You Tonight? beginnt der Song mit einem sehr einfachen Riff, in dem harmonisch Stufe I und IV schier endlos wiederholt werden. Charakteristisch ist der Pre-Chorus, der vorerst über Stufe V wieder zu Stufe I und IV wiederholt werden. Dramatisch steigert sich der Pre-Chorus über Stufe IV runter in die Moll-Parallelen iii und ii und zurück auf Stufe I. Um dann in einer angedeuteten doppeldominantischen Wendung über Stufe ii auf Stufe V zu landen. Hier kulminiert die Spannung vollends und wird erst losgelassen als der Chorus mit der fast schon herausgeschrienen Frage „Where Are You Tonight?“ zurück auf Stufe I landet und das ganze mit der I IV Wendung von vorne beginnen lässt. Diese sehr schmissige Wendung ist markant für diesen Titel.

Was sind andere Dylan-Songs, die ähnlich aufgebaut sind? Ein etwas lose vor sich her geschobener Strophenteil, dann eine Modulierung in die Mollparallelen, der in einem Dominantakkord auf den kurzen aber prägnanten Chors hinzieht. Wo gibt es das noch bei Dylan? Eine Geschichte über eine Reise mit einer Frau im Mittelpunkt? Rein musikalisch erinnert Where Are You Tonight? Sehr an Like A Rolling Stone von 1965. Auch hier wird der sehr schmissige Chorus durch Mollparallelen vorbereitet. Klanglich erinnert der Song an eine etwas reifere Version von Like A Rolling Stone und auch in seiner Tournee von 1978 spielt Dylan Like A Rolling Stone ähnlich, wie Where Are You Tonight? hier klingt: etwas langsamer mit Backgroundgesang. Auch hier spielt eine Frau die Hauptrolle. Doch es geht weniger um eine persönliche Reise. Mehr kommentiert Dylan in Like A Rolling Stone die Rolle der It-Girls (und der gesamten Hippen Mid 60s Szene). Die kryptische Bildsprache samt siamesischen Katzen, Napoleon in Lumpen und jonglierenden Clowns klingt aber schon nach Where Are You Tonight? mit freigelassenen Löwen und tanzenden Stripperinnen. Außerdem ist sein „Where Are You Tonight?“ hier noch ein gehässiges „How does it feel?“ und auch die auf den Punkt gebrachte Frage als einfach Phrase lässt den Vergleich sehr gut zu. Diese sehr bildliche, symbolistische Sprache hat Street Legal aber prinzipiell an sich. Man findet ähnliches auch in Changing of the Guards und in seiner Weiterentwicklung landet man dann schnell bei Slow Train Comin und full blown christlichem Symbolismus.

Was hier vielleicht noch etwas mehr ins Auge fällt sind Verbindungen zum nur 3 Jahre vorher herausgebrachten Album Blood on the Tracks (das auch von der schon anbahnenden Scheidung mit Sara geprägt war). Besonders ähnlich ist der Song Tangled Up in Blue. Hier ist ein einfaches Riff Grundlage des Songs. Hierbei hört man doch eher eine V-IV Wendung statt I-IV, aber trotzdem ist alles recht gospelig. Die Modulation vor dem Chorus wird ebenfalls durch Mollparallelen angezeigt und hat seinen Höhepunkt in einem ausführlich gezogenen und betonten Dominantakkord um schließlich mit der markanten Phrase „Tangled up in blue“ zu enden. Vor allem thematisch sehe ich Where Are You Tinight? (Journey Through Dark Heat) als Nachfolger von Tangled Up in Blue. Hier wird die rasante und holprige Geschichte einer Liebesbeziehung beschrieben, in der der Protagonist teilweise über Jahre die Verbindung zu seiner Partnerin verliert. Tangled Up in Blue ist aber insgesamt vielleicht noch etwas humorvoller und erzählender als Where Are You Tonight?, das durch seine kryptische Bildsprache vielleicht sogar noch zu einem Dylan der Mitsechziger zurückgreift und dadurch unter Umständen auf Dylans biblische Phase im direkten Anschluss hinweist. Auf jeden Fall zeigt der Song auf Street Legal aber Dylans eher zurückgezogene, reifere Seite, als das rasante Tangled Up in Blue. Bob Dylan geht in seinen Fragen aber auf jeden Fall von einem anklagenden „How does it feel?“ Auf ein flehendes, suchendes „Where are you tonight?“ in den 13 Jahren zwischen 1965 und 1978 über.
Senor (Tales of Yankee Power): der prüfende Blick auf den anderen
Ein Song der zu seiner Zeit wenig von der Kritik gelobt wurde und mittlerweile fast schon ein Fan Favourite ist, ist Senior (Tales of Yankee Power). In diesem Lied kommt die Verzweiflung Dylans und die Suche nach einem weiterführenden Hinweis, einem Mentor, einer Lösung sehr gut durch. Ein Schüler wendet hier existentielle Fragen an einen nicht näher definierten „Senor“. Dabei beschreibt das Lyrische Ich hier seine Umwelt auf einer Reise über verlassene Landstraßen. Auch hier ist die Bildsprache geheimnisvoll. Es geht um Träume, um Drachen und um die Suche nach einer Frau. Für mich ist dies der Dylan Song-Archetyp: der Blick auf den anderen. Ähnlichkeiten gibt es zum Beispiel mit Ballad of a Thin Man von 1965. Hier wird auch sehr prüfend beschrieben. Der Blick wird nach außen gewandt. In Senor schaut man fragend zu einem Mentor, in Ballad of a Thin Man schaut man spöttisch auf eine Kritiker. Besonders markant ist hier, dass man dieser fremden Person durch den Song hindurch Fragen stellt, sich aber auch selbst ihn ihr wiedererkennt. Während in Ballad of a Thin Man jede Strophe mit einem „Do you, Mr. Jones?“ endet sind es in Senor Fragen wie „Can you tell me what we’re waitin‘ for, Senior?“ Auch hier ändert Dylan in den 13 Jahren zwischen den Songs seine Art zu Fragen. Von einer ironischen Frage, die verächtlich von der Seite des Erzählers gezischt wird, wendet sich Dylan als Fragender an eine höhere Macht und weiß selbst nicht mehr weiter. Er ist in der Zwischenzeit selbst so etwas wie ein Mr. Jones geworden.

Musikalisch haben beide Songs auch vieles gemeinsam. Beides sind in moll gehaltene Stücke, die sehr un-dominantisch die Grundtonart umspielen. Bei Ballad of a Thin Man geht es sehr dramatisch (fast wie in einem barocken Passus Duriusculus, der einen schweren Gang (meist den Gang Christi in der Passion) beschreiben soll) in einer markanten Halbtonphrase von a-moll chromatisch runter. Dann folgen andere harmonische Stufen, die zuletzt doch ohne viele musikalischen Spannungen zurück auf a-moll leiten. In Senior geht es von der moll-Grundtonart wie im Mittelteil von Ballad of a Thin Man durch andere Harmoniestufen, doch geht es immer wieder zu a-moll zurück. Beiden Songs fehlt ein klarer dominantischer Schluss. Eine spannungsreiche Wendung zurück zur Grundtonart. Beide Songs bleiben fragend, unaufgelöst, unsicher. Was Bei Ballad of Thin Man aber noch eine schelmische Provokation ist, ist bei Senior (Tales of Yankee Power) Verzweiflung. Auch hier zeigt sich, dass Bob Dylan müder, unsicherer und ernster wirkt als noch mit Mitte 20.

Things Have Changed – Bob Dylan in den späten 70er Jahren und seine Art Fragen zu stellen
Beide besprochenen Songs haben einige Gemeinsamkeiten: sie enden in ihrer markanten Haupt-Phrase auf eine Frage. Das wirkt sehr persönlich und selbstreflektierend. Vor allem Where are you Tonight? spricht über den Enemy within und zeugt von beinahe protestantischer moralischer Beschäftigung mit sich selbst. Aber auch Senior ist klar von einer Suche nach etwas Größerem geprägt. Wo hat sich Dylan geändert? Wo er früher in Like A Rolling Stone über das hochnäsig It-Girl der Szene singt, stellt er eine spirituelle Frage an eine Person, der er eigentlich vertraut. Er agiert hier eher als Ehemann oder Familienvater in der Midlife Cris. Der böswillige Reporter, der in Ballad of a Thin Man noch besungen wurde wird zu einer gottgleichen Figur, die keine Antworten liefert und sich in Schweigen hüllt. Die Gesellschaftskritik Dylans wird in den späten 70ern zur persönlichen, spirituellen Frage. Bob Dylan hat das Fragen in Street Legal quasi neu gelernt. Allerdings macht sich hier schon die Religiosität sichtbar, in die er in den Folgejahren abdriften wird. Bob Dylan hat sich selbst in seinem späteren Wirken dafür umso mehr gefestigt. Dylan fragt mittlerweile wenig. Statt wie früher gehässig nachzubohren oder hilfesuchend nach Rat zu fragen schaut er sich einfach die Welt an, zuckt mit den Schultern und konstatiert ganz cool „things have changed.“
Spannender Beitrag, danke! Fand den musikalischen Blick auf die Songs und die Querverbindungen sehr erhellend.
Senor fasziniert mich sehr. Ich glaube, hier spricht etwas direkt zur Seele (wie bei vielen Dylan-Songs – Changing of the Guards vom gleichen Album ist ein gutes Beispiel), während der Verstand versucht, den Sinn im Text zu finden.
Für mich beschreibt der Song einen inneren Prozess. Der Protagonist sucht die Verbindung zu seinem Seelenwesen, die er im Laufe des Songs auch findet. Es entsteht eine Spannung zwischen den alten Gewohnheiten und den neuen Seelenimpulsen, denen er zu folgen versucht. Am Ende findet eine radikale Transformation statt, ein Bruch mit dem Alten, ein Aufbruch ins Neue, Unbekannte.
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