von Richard Limbert
Tell Tale Signs sind verräterische Zeichen, die einem ganz unbeabsichtigt Hinweise auf eine ganze Geschichte geben können. Für einen Ermittler sind sie eine Goldgrube, für einen Trickbetrüger sind sie das Ende und für einen professionellen Geschichtenerzähler wie Bob Dylan sind sie ein wichtiges Werkzeug. In der legendären Bootleg Series, die als Begleitlektüre zum Werk von Bob Dylan gilt, sind die Tell Tale Signs die Nummer acht und kamen im Oktober 2008 heraus. 14 Jahre später lohnt sich der Blick zurück auf eine ganz besondere Sammlung an Songs, die nicht in einzelnen Songs, sondern durch ihre Auswahl und gestreute Hinweise ihre Geschichte erzählt.

Wann ging es künstlerisch für Bob Dylan wirklich bergab? In den 60er Jahren war Bob Dylan einer der bekanntesten Musiker überhaupt. In den 70er Jahren konnte er mit Alben wie Blood on the Tracks (1974) und Desire (1976) an viele Erfolge anknüpfen, hatte mit Planet Waves (1974) sogar sein erstes Nr. 1 Album in den Vereinigten Staaten. Bei Street Legal (1978) aber scheiden sich schon die Geister. Manche sehen es als Dylans Anfang vom Ende an, andere sagen es war das Ende vom Anfang, eins der letzten Alben des alten Dylan. Es folgte ab 1979 seine christliche Schaffensphase, die schon musikalisch und textlich sehr umstritten ist und von da an verloren sich die Bob Dylan Alben im Laufe der 80er in eher schlecht als recht zusammengestellten Liedsammlungen. Ab den 90ern dann mit dem Revival des Grunge und Alternative Music kommen die swinging 60s mit ihrem revolutionären Geist nun wieder gut an und auch Bob Dylan schwingt zu neuer Größe mit kryptischen, bluesigen Alben wie Time Out of Mind (1997) auf. Eine Welle der erdigen, ehrlichen, handgemachten Musik auf der Dylan bis heute reitet. Soweit zumindest das Narrativ. Der typische Aufstieg, Fall und Wiedergeburt eines Helden. Ein Blick in Dylans Werk über die Jahrzehnte deckt aber auf: sein Werdegang ist weitaus komplexer. Der Aufstieg aus der Asche ist zwar ein schönes Symbol, aber zum Glück hat sich die Bootleg Series, die schon seit den 90ern (durch das Bob Dylan Revival übrigens angefeuert) auch hier einer Periode Bob Dylans angenommen, die in seiner regulären Diskographie nicht richtig abgebildet werden kann. Die umstrittene Bob Dylan Tour von 1966 in der das Publikum einen müden und zugedröhnten Dylan regelrecht ausbuhte und die sowohl opulente als auch improvisierte Wanderzirkus-artige Rolling Thunder Revue Tour von 1975 wurden vorher schon durch die Bootleg Series in den Kontext gerückt. Zum ersten mal in meinem Leben habe ich mich seit einigen Wochen jetzt wirklich mit dieser Episode der Bootleg Series beschäftigt und bin in ihren Bann gezogen worden. Was für Hinweise zeigen uns also die Tell Tale Signs?
Bob Dylan als Entdecker zwischen dem Weg nach Hause und neuen, alten Meisterwerken
Mit den Tell Tale Signs lieferte Columbia uns 2008 ein Set aus zwei CDs mit 28 Titeln. Dylans Phase zwischen Suche nach neuer stilistischer Sachlichkeit und stilfestem Werk im Laufe der 90er wird hier abgebildet. Es handelt sich um die Zeit zwischen den Aufnahmen zu Oh Mercy (1989) als erster Versuch einen erdigeren, bluesigeren Sound zu finden und seinem hochgelobten Album Modern Times (2006), bei man nun wirklich jedem Klischee zum Trotz von einem Americana „Altmeister“ sprechen kann. Das Album sollte Dylans erstes Nr. 1 Album seit 1976 werden und endlos lange in den Albumcharts des Rolling Stone Magazins bleiben. Also werden hier Pi mal Daumen 20 Jahre Bob Dylan abgedeckt. Eine lange Zeit und doch wirken sie wie ein Wimpernschlag, wenn man bedenkt dass Dylan in dieser Zeit eher wenige kommerzielle Erfolge verbuchen konnte. Und wie im Titel angemerkt, will diese Zusammenstellung unveröffentlichter Aufnahmen Hinweise geben, dem Hörer einen roten Faden zeigen, der von den Rock’n’Roll-Anfängen Bob Dylans in den später 50ern bis zu Modern Times reicht. Eigentlich sehr ähnlich mit der Bootleg Series Nummer 7, dem Soundtrack zur Scorsese Dokumentation No Direction Home (beides von 2005). Hier wird Bob Dylan als ewig suchender Wanderer porträtiert, der nicht als zielgerichteter Protestsänger geboren war, sondern aus dem Rock’n’Roll kommt und eigentlich stetig einen leicht anarchistischen Funken in sich trägt. Die Wendung zum Rock mit der Rock Backing-Band ab 1965 ist somit kein Stilbruch, sondern eine ganz logische Fortführung. Die Bootleg Series Nummer 7 beginnt also mit frühen Heimaufnahmen des Teenager Bob Dylan von Doo-Woop Songs und endet mit einer Live Aufnahme von Like A Rolling Stone von 1966. Ähnlich und doch nicht ganz so biographisch macht es Tell Tale Signs. Hier ist der Rückgriff auf Dylans Biographie nicht ganz so stark im Vordergrund. Hier wird Dylans Werk in dieser Zeitspanne analysiert und gezeigt: wer nur die Alben hört übersieht hier wichtige Entwicklungen. Der Rückgriff auf die alten Helden der Blues und Country-Musik wird mit Liveaufnahmen und alternativen Studioaufnahmen gezeigt. Dylan spielt in dieser Zeit Live und im Studio Stücke von Robert Johnson oder alte Bluesnummern die er im Greenwich Village der frühen 60er gelernt hat. Vor allem zeigt hier diese Ausgabe der Bootleg Series: Bob Dylan hat seine Aufnahmen oft spärlicher instrumentiert und arrangiert als auf der Albumversion zu hören ist. Man hört hier also förmlich aus nächster Nähe, wie ein kreativer Schaffungsprozess in Gang kommt, der in der Renaissance des Bob Dylan enden sollte.

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Der Weg nach vorne und der Blick zurück
Beginnen tut Tell Tale Signs mit einer Aufnahme des für das Time Out of Mind Album gedachten Songs Mississippi. Und das gleich auf beiden CDs. Auf der zweiten ist eine zweite unveröffentlichte Aufnahme des selben Songs. Hier sieht man schon den dynamischen Ansatz dieser Compilation: einige Songs werden auch in verschiedenen Versionen präsentiert um den Schaffungsprozess abzubilden. Die erste Version von Mississippi ist dabei sehr akustisch. Nur mit Akustikgitarren, eine dezenten E-Gitarre und Kontrabass swingt sie im jazzy Stil sehr charmant vor sich her. Der Text ist dabei auch klar mit seiner Bildsprache an den großen Blues- und Jazzmusikern der 30er und 40er Jahren angelehnt. Ein wunderschöner Dylan-Song der auch auf jedem Album eine gute Figur gemacht hätte. Die zweite Version ist mit dem Schlagzeug und der knartschenden E-Gitarre schon etwas kantiger und die Vocals von Dylan sind etwas kratziger und ernster. Man merkt, wie sich der Stil langsam an Alben wie Time Out of Mind und Love and Theft angleicht. Und nach diesem Song wird man gleich wieder in neue Wasser geworfen wenn man nur die Studioalben gewohnt ist. Auf Oh Mercy hat Dylan Ende der 80er seinen Song Most of the Time als gefühlvolle Crooner Ballade geschrieben, die mit viel Hall auf der E-Gitarre und repetitiven Schlagzeug ins Herz trifft und gleichzeitig an U2 erinnert. Hier haben wir den Song nur mit Dylan allein auf Tell Tale Signs. Wie in seinen Folk-Anfängen in den 60er Jahren spielt er hier Folk-Gitarre und Mundharmonika, phrasiert viel schneller und spielerischer, wie auf seinem Debütalbum von 1962. Es ist klar, wieso sich für Oh Mercy am Ende für die opulente Version entschieden wurde, aber man sieht durch diesen Hinweis eben auch, wie sich Dylan noch in den 80ern teilweise gewollt an seine Anfänge zurückerinnert wenn er einen neuen Song arrangiert. Auch den nie auf einem regulären Album veröffentlichten Song Dignity, den Dylan Ende der 80er schrieb, merkt man hier einen starken Rockabilly Touch an. In der Version von MTV Unplugged könnte man den Song höchstens noch als treibenden Rocksong kennen, hier hat man aber gleich zwei Versionen, bei der die erste eine gefühlvolle Piano-Ballade ist. Der Mann ist stilistisch einfach wunderbar wandelbar!
Dylan ist berüchtigt dafür, dass er teilweise seine besten Songs in der Schublade lässt und stattdessen seine Alben mit anderen Songs füllt. Wie oft angemerkt, hat er einen seiner besten Songs, das gespenstisch-kryptische Blind Willie McTell, aus unerfindlichen Gründen nie auf dem dafür vorgesehene Album Infidels (1983) veröffentlicht. Ähnlich sehen wir das nun auch auf Tell Tale Signs. Der Song Red River Shore würde für jeden anderen Songwriter der größte Hit im Repertoire sein. Dylan hat ihn allerdings erst hier im Nachgang veröffentlicht. Ein weiteres Teil im Puzzle um den Bob Dylan-Hype der 90er und 2000er Jahre sind die Liveaufnahmen von Tell Tale Signs. Sein rauer, grooviger Song für den Country Blues-Musiker der 20er und 30er Jahre, Charley Patton aus Mississippi, High Water (For Charley Patton) ist auf Love and Theft schon ein gefeierter Hit gewesen und klingt rockig und bluesig zugleich. Auf Tell Tale Signs hört man aber die Live-Version von 2003, und hier groovt es richtig. Die Gitarren jaulen und das Schlagzeug ist unaufhaltsam. Dylan singt spitz und energiegeladen wie ein 20-Jähriger. Auch ein Rückgriff auf die alten Blues-Musiker ist hier als Live-Version auf dem Album: der Cocaine Blues hat mit dem Reverend Gary Davis seinen Weg vom Südstaaten Blues in das New York der 50er Jahre gefunden. Hier wurde es besonders von Dave van Ronk zu einem Standard im Greenwich Village der 60er. Schön, hier zu hören, dass Dylan den Song noch in den 90ern live spielte. Und auch mit dem 32-20 Blues hat Dylan sogar im Studio einen Song von Robert Johnson eingespielt.
Meisterwerke aus der Schublade und ungeschliffene Diamanten
Auch sind hier Stilblüten zu finden, die auf Oh Mercy unter Produzent Daniel Lanois etwas gezähmt wurden. Series of Dreams hat einen ziemlichen Drive, aber klingt auch glitzernd und mechanisch wie U2. Auf das Swamp-Blues Album Oh Mercy hätte es so 1989 weniger gepasst. Schön, dass wir hier hören können, wie der U2-Produzent doch so einen zeitgenössischen Song aus Dylan rausholen konnte. Der Song wurde übrigens 2008 beim Release von Tell Tale Signs als kostenloser Download und für Radiostationen zur Verfügung gestellt. Von Columbia ist der Track also schonmal als Appetizer eingestuft worden. Die langen, düsteren und kryptischen Hymnen von Dylan spielen auf dem Album aber natürlich die große Rolle. Marchin to the City wurde von Bob Dylan nie veröffentlicht. Mit seinem Gospel-artigen Piano und Dylan als singenden Preacher ist der Song aber mehr als nur ein Blues. Ein einsamer Wanderer scheint diesen Song zu singen und man ist sofort in einer anderen Welt. Besonders hier fällt aber auch noch etwas auf: Dylans Band in den 90ern war unglaublich tight. Nichts mehr ist vom Pomp von Dylans Gospel-Jahren der späten 70er und Studiomusiker-Sessions der 80er Jahre zu erkennen. Mit Tony Garnier am Bass, der bis heute Dylans Bandleader ist spielt diese Band nie auch nur einen Ton zu viel. Die Wendung ins Erdige, Bluesige des Bob Dylan der 90er Jahre, das ist auch Verdienst von Dylans neuer Backingband. Besonders bei den neueren Aufnahmen hört man das. Was bei Modern Times schon ein fester Sound wie aus einem Guss ist, ist in den Aufnahmen der 90er noch ein bisschen lockerer, aber man merkt wohin die Reise gehen soll. Eines der großen Werke des späteren Dylan ist klar Ain’t Talkin‘, der 2006 auf Modern Times herauskam. Der fast 9-minütige Song wird aus der Sicht eines mysteriösen Pilgers erzählt, der prophetische Zeilen seiner Reise singt. Der Song ist gefüllt mit regelrechten Sentenzen, wie
„Well, the whole world is filled with speculation
The whole wide world which people say is round
They will tear your mind away from contemplation
They will jump on your misfortune when you’re down“
In dieser Version wird am Text anscheinend noch gefeilt. Einige Verse fehlen, einige sind komplett anders. Hier hat Dylan „no time for idle conversation“ und sucht einen Doktor in dieser verlassenen Stadt. Er hat keine Zeit zu verlieren und keine Lust mehr auf den öffentlichen Dienst, dazu kommt die Königin der Liebe über das Gras geschwebt. schräg, oder? Der Text ist hier etwas weniger bissig und auch die Instrumentierung geht hier zwar schon in eine gute Richtung, aber so ganz tight klingt es alles noch nicht. Wobei vor allem das Banjo hier zur Atmosphäre beiträgt und ein rhythmisches Klavier im Refrain zum ewigen Gang des Pilgers den passenden Hintergrund liefert, der in der Modern Times Version fehlt. Die Instrumentierung ist auf Tell Tale Signs aber klar in einem Transformationsprozess. Nicht nur werden die Musiker tendenziell tighter und weniger, auch sieht man, wie sich Instrumente herausbilden, die heute ein wichtiger Teil im Sound von Bob Dylan sind, zum Beispiel das Solo-Akkordeon auf Red River Shore oder hin und wieder die Geige im Hintergrund.
Der Weg ist das Ziel
Insgesamt ist Tell Tale Signs ein faszinierender Einblick in ein Werk, das noch mitten im Entstehen ist. Bob Dylan ist eben als experimentierfreudiger Musiker seit den 60ern bekannt und orientiert sich sichtlich oft und gerne an Vorbildern aus dem frühen 20. Jahrhundert, was man nur anhand von Oh Mercy und Time Out of Mind nicht immer raushören kann. Das Jahrzehnt der 80er war insgesamt nicht seine beste Zeit, aber man sieht doch: Dylan ist anders als seine Alben es vorgeben. Er ist sowieso nicht wirklich ein Album-Musiker und Tell Tale Signs zeigt das. Gerade der stilistische Ansatz präsentiert hier mit Bravour, wieso gerade Zusammenstellungen wie Tell Tale Signs für den Genuss der Musik Bob Dylans so wichtig sind. Dylans Werk, das sind nicht nur die ewig langen, kryptischen Balladen der psychedelic Sixties. Wer das sucht, wird das bei Dylan so oder so nur bedingt finden. Bob Dylan erklärt sich durch stetige Suche und Veränderung und der Verneigung vor den Songs und Sounds, die vor ihm gekommen sind. Dylan will oft auch Stimmung einfangen. Seine Alben der 90er leben meist von einer gewissen Atmosphäre, als von einzelnen Songs. Dazu passend ein Zitat zu seinem Album Love and Theft aus dem Booklet von Tell Tale Signs: „I think of it as a greatest Hits album, volume one or two – but without the Hits.“
Man muss sagen, dass die Bob Dylan Bootleg Series in den 90ern für genau solche Fälle gestartet wurde: größere Stilbögen Dylans sind durch sein Werk an regulär erschienenen Alben kaum zu entdecken. Kein Wunder, dass gerade um Dylan die Bootleg Szene schon seit den 60ern eine blühende Bewegung ist. Und gerade beim Werk Dylans, das heute noch mit Rough & Rowdy Ways wegen seiner schönen stilistischen Rückgriffe und Americana-Feelings hochgehalten wird, lohnt sich der Blick in diese Entwicklung Dylans seit den 80er Jahren umso mehr. Tell Tale Signs erzählt also noch 14 Jahre nach seinem Erscheinen eine Geschichte durch Symbole und verräterische Zeichen.