von Martin Schäfer November 2021
Erlaubt mir zum Anfang ein bisschen sentimental zu werden: Dass ich DAS, als Fan seit 1964, noch erleben darf! Nämlich dass Bob Dylan die (fast vollständigen) Outtakes von 1980-85 in einer wunderbaren Box mit 5 CDs herausbringt!

Warum war (und ist) mir gerade das so wichtig? Vielleicht weil es die Zeit betrifft, in der es am schwierigsten war, Dylan-Fan zu bleiben – und zwar weil es, nach den bis heute umstrittenen Gospel-Jahren, überhaupt die schwierigste war. Ich weiss noch, wie wir uns damals (mitunter mit Zittern und Zagen) von Platte zu Platte und von Konzert zu Konzert vorgewagt haben. In meinem Fall hiess das: Basel 1981, noch halbwegs im Gospel-Format, als SHOT OF LOVE erschien; dann Verona und Basel 1984 (mit der „englischen“ Blues-Band um Mick Taylor), mit INFIDELS im Gepäck; dann zum dritten Mal Basel, dann aber auch noch das famose Locarno, 1987, mit Tom Petty & The Heartbreakers: da haben wir uns doch gesorgt um ihn wie um die sprichwörtliche kranke Kuh, haben tapfer den Spott der Philister ertragen (in Verona hörte ich einen englischen Journalisten seiner Redaktion am Telefon berichten, «He’s pissing away his stature as an artist»)… Unentwegt haben wir damals den Ahnungslosen unser ganzes Besserwissen entgegengehalten, haben SHOT OF LOVE dank «Every Grain of Sand» durch alle Böden verteidigt, haben INFIDELS trotz «Neighborhood Bully» und «Union Sundown» als Meisterwerk gepriesen, haben sogar EMPIRE BURLESQUE mitsamt Arthur Bakers (unterdessen längst antiquiertem Remix) ganz gut ausgehalten…
Und jetzt eben diese grosse Revanche, die Richtigstellung, die Rehabilitierung all der Sessions aus jener umkämpften Zeit, von Max Dax zu Recht im Spiegel eloquent zertifiziert. Das ist sozusagen «Highway 84 Revisited», endlich mit dem unübertrefflichen «rockenden» Take 5 von «Blind Willie McTell» (der bis jetzt nur inoffiziell zirkulierte, den die amerikanische Band Dream Syndicate aber schon vor vielen Jahren gecovert haben), ausserdem mit noch nie gehörten Versionen von «Tell Me», «Jokerman», «I and I», «Don’t Fall Apart On Me Tonight» – und gleich drei sensationellen, aufeinanderfolgenden Versionen von «Too Late» bzw. «Foot of Pride». Kurz bevor die Box erschien, erschien in The Arts Desk ein höchst aufschlussreiches Interview mit dem Koproduzenten/Remixer Steve Berkowitz, der übrigens auch für die Bootleg Series in Sachen Miles Davis verantwortlich ist (https://theartsdesk.com/new-music/out-shadows-dylan’s-eighties-reappraised) – da erfahren wir unter anderem, dass man (das heisst wohl: er und Jeff Rosen) sich sogar überlegt habe, eine umfassende Ausgabe mit sämtlichen Outtakes, Rehearsals, „false starts“ herauszubringen, wie das mit THE DEFINING MOMENT für die Jahre 1965-66 gewagt worden war. Aber man habe sich dann vorsichtshalber doch auf eine Zusammenstellung der allerbesten Takes beschränkt, vermutlich aus Gründen der Vermarktbarkeit. Mit andern Worten: da ruht vermutlich noch einiges mehr in den Archiven, als was wir jetzt bekommen haben – spätere, exklusive Nachlieferungen im Sinn der «Copyright Collections» sind also nicht ausgeschlossen… aber das soll uns im Moment egal sein, denn was jetzt vorliegt, ist reichlich genug.
Nämlich: 57 Titel, mit 4:20:54 Gesamtdauer… und jetzt kommt ein heisser Tipp: ich habe das Ganze noch im September für sage und schreibe 21 Franken 50 ganz legal aus dem iTunes Store herunterladen können. In den Album-Charts aufgetaucht ist dann allerdings wohl eher nur die Doppel-CD mit einer Auswahl von 25 Titeln. OK, da war dann halt «Julius and Ethel» nicht drauf – was mir persönlich sehr lieb und wert, aber streng genommen nur vom Text her wichtig ist. Und auch nicht die wunderschönen Versionen von Hank Williams’ «Cold Cold Heart» und «Mary of the Wild Moor», «Green Green Grass of Home» und «Baby What You Want Me To Do»…
Aber der wirkliche Grund, warum eigentlich nur die «Deluxe Edition» zu empfehlen ist, das sind nicht primär die Cover-Versionen, auf die liesse sich allenfalls verzichten… einmal abgesehen davon, dass «The Price of Love» leider nicht die tolle Everly Brothers-Nummer gleichen Titels ist, sondern eine bisher unbekannte Dylan-Komposition, die nicht allzu erwähnenswert, aber wenigstens mit einem satten, funky Bo-Diddley-Beat unterlegt ist. Absolut essentiell sind hingegen die Discs 3 und 4 der Deluxe-Edition, die (vermutlich) ziemlich kompletten Aufnahmen aus der New Yorker «Power Station», mit jener Traum-Band, die im erwähnten Video zu erleben sind. (Und übrigens einem zweiten, «License to Kill»). Das ist eben die Band mit Mick Taylor, Mark Knopfler, Alan Clark (von Dire Straits) – und vor allem der brillanten jamaikanischen Rhythmussektion: Sly (Dunbar) und Robbie (Shakespeare). Jawohl, das ist die Besetzung von INFIDELS (nachträglich ergänzt um ein paar Overdubs von Clydie King), und diese beiden Discs repräsentieren nun wirklich das, was INFIDELS immer schon hätte sein können, aber damals seltsamerweise nicht sein durfte, sie sind, am Stück gehört, allein schon den Preis der Deluxe-Edition wert – weil besser, d.h. stringenter als das, was jetzt in Form des simplen Doppelalbums erschienen ist.
Das einzige, was hier noch fehlt: eine weitere Version von «Blind Willie McTell», nämlich der Take 1, der ist offiziell wirklich nur auf Jack Whites Third Man-Label auf Vinyl-Single zugänglich (aber unterdessen auf Vimeo leicht zu finden: https://vimeo.com/405062186 ).1 Im übrigen bleibt kaum ein Wunsch offen, allenfalls auf Disc 5, wo die Live-Aufnahmen etwas grosszügiger hätten ausfallen dürfen. Warum nur grad «License to Kill» aus dem legendären TV-Auftritt mit The Plugz (in der Letterman Show), warum nicht auch «Don’t Start Me Talkin’» und «Jokerman» – und warum nur eine einzige der diversen Raritäten aus der Europa-Tournee mit Mick Taylor («Enough Is Enough»), warum nicht auch Willie Nelsons «Why Do I Have To Choose», zum Beispiel, aus Basel oder München oder Milano?
Aber lassen wir das Mäkeln, es gibt so viel zu feiern! Übrigens durchaus auch auf den ersten zwei Discs, die vor allem aus den 81er Sessions zu SHOT OF LOVE stammen. Dieses Album hat Dylan bekanntlich immer gern als persönlichen Liebling genannt, obwohl es auch unter seiner recht eigenwilligen Songauswahl zu leiden hatte. Wie toll wäre es erst gewesen, wenn «Angelina», «Need A Woman», «Let’s Keep It Between Us» und «Don’t Ever Take Yourself From Me» drauf gewesen wären! Hier sind sie jetzt endlich, nur «Caribbean Wind» fehlt, aber das war ja schon auf TROUBLE NO MORE. Als Ganzes genommen diese beiden ersten Discs freilich nicht ganz so durchhörbar, nicht so ganz der wahre SHOT (OF LOVE): zu schleppend das Remake von «Sweet Caroline» (da ist mir Neil Diamonds beschwingtes Original lieber), zu unnötig das banale «This Night Won’t Be Forever», zu peinlich nach wie vor Dave Masons «We Just Disagree»… Und bin ich der einzige, der die famose Rhythmussektion hier (mit Tim Drummond am Bass und Jim Keltner am Schlagzeug) mitunter etwas schwerfällig findet, verglichen mit Sly & Robbie zwei Jahre später? Aber zugegeben, ganz zu Beginn, in den vier Probeaufnahmen (von «Señor», «To Ramona», «Jesus Met The Woman» und vor allem «Mary of the Wild Moor»), da leuchten auch sie.
So oder so, richtig spannend wird es dann eben auf Disc 3, mit den ersten Versionen von «Jokerman» und «Blind Willie McTell», vermutlich genau jenen, die für Mark Knopflers ursprüngliche Fassung von INFIDELS vorgesehen waren und womöglich durch Knopfler selber noch vor der offiziellen Veröffentlichung auf Kassette in Umlauf gebracht wurden… ich erinnere mich sehr genau, dass dieses Tape schon im September zirkulierte – und dass ich es damals auf dem eben neu entstandenen Radio DRS3 aus lauter Vorfreude spielen liess (was Sony bzw. CBS in Zürich sehr wohl registrierte und mir darum zur Strafe das Album zuerst nicht zuschickte). Nun haben wir hier also jenen sagenhaften ersten «Jokerman», mit leicht abweichenden Textstellen… und dann den unterdessen noch famoseren ersten, hart rockenden «Blind Willie», der somit zum ersten Mal überhaupt offiziell zugänglich wird. Knopfler hatte recht: das war das Juwel, das INFIDELS erst recht zum Meisterwerk gemacht hätte… warum Dylan gerade diese Perle dann kippte, wird ewig unerklärlich bleiben. «I didn’t record it right», behauptete er im Jahr drauf in einem Interview, und als der Song dann 1991 erstmals in der Bootleg Series auftauchte, war es (zu meiner Enttäuschung) eine andere, ganz schöne, aber etwas lahme Fassung, ohne Mick Taylors jaulende Slidegitarre und vor allem ohne Dylans subtiles Klavierintro, zu dem sich Sly und Robbies «Drum & Bass» alsbald ebenso subtil, aber funky hinzugesellen…
Nicht weniger spannend dann gleich die nächsten Tracks, zwei Versionen von «Don’t Fall Apart On Me Tonight», die erste langsam, balladesk, schon fast eine Vorahnung der Sinatra-Jahre, die zweite eben jener «Take 2», der unterdessen auch als Video zu sehen ist. Interessant wäre zu erfahren, ob eigentlich jene ganze Session gefilmt worden ist, oder nur gerade die beiden Songs («Don’t Fall Apart» und «License») – ich würde mir jedenfalls auf Weihnachten eine ganze DVD davon wünschen, Träumen ist ja erlaubt. Erträumen möchte ich mir am liebsten auch eine rhythmisch interessantere, weil Reggae-Version von «Neighborhood Bully», aber von diesem ewig umstrittenen Song kriegen wir hier leider nur einen kaum unterscheidbaren «alternate take», gefolgt von einem ganz schönen «Someone’s Got A Hold On My Heart», das aber doch kein zwingender Ersatz ist für «Tight Connection», den Song, der später (auf EMPIRE BURLESQUE) daraus geworden ist. Auch auf «This Was My Love», diese erste, unerwartete Sinatra-Nummer in Dylans Repertoire, hätte ich streng genommen verzichten können… aber dann, gegen Ende der Disc 3, wird’s nochmals richtig, um nicht zu sagen: erst recht spannend. Wer hat vor der letzten Juni-Nummer von UNCUT gewusst, dass «Foot of Pride», der zweite epochale Song aus diesen Sessions, ursprünglich «Too Late» hiess? Hier taucht er gleich dreimal auf: in einer ersten akustischen Fassung (nur mit Knopfler und Dunbar), dann in einer Band-Version – und schliesslich, absolut umwerfend, zwei Tage später bereits unter dem neuen Titel (den Lou Reed später am New Yorker «Bobfest» so denkwürdig gecovert hat).
Hier sind nun wirklich die Textvariationen hochspannend… und fast automatisch fange ich wieder einmal an zu werweissen: worum oder vielmehr um wen geht es da? Meine erste Vermutung, vor vielen Jahren schon, war ja: es könnte um Keith Green gehen, den jüdisch-evangelikalen Prediger und Sänger, bei dem Dylan anno 1980 mal ein Harmonika-Solo beigesteuert hat (in «Pledge My Soul to Heaven», auf dem Album SO YOU WANNA GO BACK TO EGYPT). Lustigerweise hat Clinton Heylin in STILL ON THE ROAD diese Vermutung aufgenommen, keine Ahnung wie er darauf gekommen ist.2 Einiges passt jedenfalls: Keith Green ist (1982) bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. «He reached too high and was thrown back to the ground»… sang man wohl «Danny Boy» bei seiner Beerdigung? Aber nein, das würde wohl eher auf einen Irländer hindeuten. Hatte er einen Bruder namens James (Jacob)? Das wiederum würde bei Jesus passen. Aber es geht jedenfalls um den einen oder anderen Prediger, und ausserdem um Leute, die mit den Sünden anderer Geld verdienen und «Amazing Grace» singen auf dem Weg zu den Schweizer Banken… Laut Heylin soll es 43 Versionen des Songs geben, hier haben wir drei davon, das macht also vier bis jetzt – hat sich schon jemand die Mühe gemacht, die Evolution des Textes im Einzelnen nachzuverfolgen? Wenn nicht, mache ich mich bei nächster Gelegenheit an die Arbeit…

Auch ein paar andere Nummern hier stiften zum Spekulieren an: wer war wohl das Modell für «Clean Cut Kid», wer wird angeredet im wunderschönen «Tell Me», und nicht zuletzt: was war der Anstoss zu «Julius and Ethel», der so seltsamen wie unerwarteten Hommage an die Rosenbergs, die 1953 hingerichteten jüdischen «Atomspione», deren Schuld bis heute angezweifelt wird? Es enthält quasi Dylans letztes, böses Wort zu einem Jahrzehnt, das er in ganz anderem Kontext auch schon gerühmt hat: «Someone said the Fifties were the Age of great romance/ I say that’s just a lie, it was when fear had you in a trance»… Wie «Neighborhood Bully» beweist der Text, wie sehr sich Dylan in dieser Zeit erneut mit jüdischen Themen auseinandergesetzt hat – und man könnte sich vorstellen, wie anders INFIDELS wahrgenommen worden wäre, wenn er diese beiden (musikalisch ziemlich vergleichbaren) Songs ausgetauscht hätte. Auch in «Tell Me» geht es übrigens, abgesehen von Liebesdingen, recht klar um eine Wahl, nämlich zwischen Judentum, Christentum und Rastafari – ähnlich wie in «Angelina» und «Caribbean Wind», diesen andern ziemlich «karibisch» inspirierten Songs: «Do you long to ride on that old ship of Zion? What means more to you, a lap dog or a dead Lion?» So wie Dylan dann auf der 84er Europa-Tour mit einem Willie Nelson-Song ja fragte: «Why Do I Have To Choose?» Schade, hat er den nie aufgenommen – statt «Angel Flying Too Close To The Ground», der dann mehrfach als Single-B-Seite (u.a. zu «I and I» und «Union Sundown») erschien und hier auch erstmals wieder offiziell auftauchen darf.
Eine ziemlich wilde Vermutung drängt sich mir übrigens auch auf, was den schönen Titel dieser Bootleg Series Vol. 16 angeht, SPRINGTIME IN NEW YORK. Klar bezieht er sich zunächst auf den Zeitraum, in dem mindestens die Sessions zu INFIDELS stattfanden, nämlich April-Mai 1983. Auch SHOT OF LOVE entstand in einem Frühjahr, 1981, allerdings in Los Angeles. Könnte es sein, dass Dylan diesen Neuanfang als ein Frühlingserwachen erlebt hat, nach den zunehmend freudlosen zwei evangelikalen Jahren? Niemand wird bestreiten, dass diese zwar mit SLOW TRAIN beschwingt begonnen hatten, aber dieser Schwung war auf SAVED doch einer gewissen Verbissenheit gewichen. Mit Shakespeare (William, nicht Robbie) gesagt: «The winter of my discontent?» Wobei ich zugeben muss, dass diese Assoziation mir erst kürzlich dank dem entsprechenden Zitat auf ROUGH AND ROWDY WAYS eingefallen ist, in «My Own Version Of You»! Aber dass die Jahre nach 1980 für Dylan tatsächlich von einigen theologischen Nöten geprägt waren, bestätigt sein alter Freund Louis Kemp in dem Erinnerungsband DYLAN AND ME: er ist sogar überzeugt, dass das Minnesota Kid nicht zuletzt unter seinem Einfluss zum Judentum zurückgekehrt sei… und auch die unterschätzte Britta Lee Shain deutet in ihrem durchaus lesbaren Buch SEEING THE REAL YOU AT LAST ganz Ähnliches an. Manche amerikanischen Fans glauben zwar bis heute unentwegt, Dylan sei bis heute «born again» geblieben, aber seine spätere Nähe zur jüdischen Chabad-Bewegung ist wohldokumentiert – und genau dieses «back to the roots» dokumentiert, «through a glass, darkly», SPRINGTIME IN NEW YORK.
1 Und was (aus meiner Sicht) leider auch fehlt, sind die neuen Reggae-Remixe von „Jokerman“ und „I and I“, die würden doch auch passen… aber sie sind natürlich später entstanden, und überhaupt: wir haben sie ja schon und man findet sie im Netz, wenn man sucht.
2 Clinton Heylin, Still on the Road. The Songs of Bob Dylan Vol.2: 1974-2008, London: Constable 2010, p. 233ff.
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