Kritische Fußnoten zur neueren Publikationsgeschichte von Bob Dylans Lyrics
von Martin Schäfer
I.
Am 13. Oktober 2016 wurde Bob Dylan der Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Noch am selben Tag kündigte der Verlag Simon & Schuster an, dass die bereits geplante, erweiterte Wiederveröffentlichung von Dylans Lyrics 1961-2012 vorverschoben werde.1 Und bereits am 17. Oktober erschien auf Dylans eigener Webseite der folgende Hinweis:
Well known for changing the lyrics to even his best-loved songs, Dylan has edited dozens of songs for this volume, making The Lyrics a must-read for everyone from fanatics to casual fans. http://bobdylan.com/books/the-lyrics-1961-2012/
Als der Band in die Läden kam, sorgte er unter Kennern tatsächlich für einiges Aufsehen. Ich erinnere mich gut, wie ich ihn kurz vor Weihnachten erstmals durchblätterte und ziemlich bald auf recht unerwartete und erstaunliche Änderungen stiess, die sich dann auch in den zweisprachigen Ausgaben (z.B. von Hoffmann & Campe in Deutschland und Feltrinelli in Italien) wiederfanden. Eines der ersten und für mich schockierendsten Beispiele war die folgende starke, geradezu biblisch-vielsagende Zeile aus dem 73er Album Planet Waves
„I ain’t a haulin’ any of my lambs to the marketplace anymore“
So zu lesen noch 2014 in der monumentalen Lyrics-Edition von Christopher Ricks et al.2 Stattdessen heisst es nun, definitiv weniger denkwürdig:
„I hear you callin’, same old thing like it was before“
Zufällig oder auch nicht war das, wie sich nach einiger Recherche herausstellt, überhaupt der älteste der hier offenbar von Dylan persönlich abgeänderten, in diesem Fall allerdings ziemlich definitiv verschlimmbesserten Texte. Was war da passiert? Dylan hatte ihn im Lauf seiner «Never-Ending Tour» nach vielen Jahren ab und zu wieder aufgegriffen (erstmals ab 1997 in Bournemouth?), und er war dabei immer wieder sehr frei mit den Worten umgegangen. Aber noch 2003 in London sang er die schöne Zeile von den «Lämmern»; als ich den Song dann 2009 in Genf zu hören bekam, zum allerletzten Mal übrigens, da war es allerdings schon die «korrigierte» Version. Ging es Dylan etwa gerade darum: vielleicht allzu verräterische Passagen nachträglich zurückzunehmen?3 Denn er hätte ja mit den «Lämmern» seine Songs meinen können – und die biblische Konnotation mit Jesus wäre vielleicht allzu naheliegend gewesen.4 Beim weiteren Durchforsten der neuen Edition finden sich denn auch gleich weitere einschlägige Passagen, so etwa in «Man in the Long Black Coat», wo die immer schon erstaunliche Zeile «People don’t live or die, people just float» nun ersetzt war durch den eher banalen Satz «I went down to the river, but I just missed the boat». So hatte Dylan den Song aber schon einige Jahre lang gesungen, und so ist er unterdessen auch auf seiner Webseite www.bobdylan.com wiedergegeben; in der Ricks-Ausgabe hingegen war die Korrektur erst als Variante in einer Fussnote vermerkt. Dass Dylan nun also seine – live schon längst wandelbaren – Texte in dieser «édition revue et corrigée» so radikalen Abänderungen unterworfen hatte, das war allerdings bemerkenswert. Noch weiter ist einst nur Frank Zappa gegangen, als er in den späten Achtzigerjahren die frühen Platten seiner «Mothers of Invention» zum Teil mit anderen Musikern neu aufnahm; bei Bob Dylan sind wenigstens die Originalaufnahmen weiterhin verfügbar, aber für die ursprünglichen Texte muss man nun also etwas weiter suchen, in den alten Editionen oder auf mehr oder weniger autorisierten Webseiten wie https://www.lyricfind.com.

II.
Warum reagiere ich aber so betroffen auf diese und ähnliche Änderungen? Für mich und wohl viele andere sind Dylans Lyrics eben doch irgendwie wie eine Bibel, deren Wortlaut ich im Grunde als so sakrosankt empfinde, dass ihn nicht einmal der Autor selber beliebig abändern sollte. Noch heftiger hätte ich wohl nur reagiert, wenn Dylan à la Zappa sogar die Originalaufnahmen korrigiert hätte – und wenn diese dann in der ursprünglichen Form gar nicht mehr greifbar wären. Das ist im Fall von Dylan zum Glück nie vorgekommen (ausser in Form von mehr oder weniger hörbaren Remixes, die in der Regel doch eher als klangliche Verbesserungen empfunden werden können). Ein einziges Album ist später um einen Song ergänzt worden, Shot of Love, wo «Groom’s Still Waiting at the Altar» hinzugefügt wurde – aber dagegen hat sicher niemand je protestiert, im Gegenteil. Und dass die von Columbia gegen Dylans Willen veröffentliche 73er Sammlung Dylan zeitweise aus der offiziellen Diskographie gestrichen (und vorübergehend kaum mehr lieferbar) war, dürfte die wenigsten gekümmert haben.
Trotzdem ist es bemerkenswert, dass unterdessen mindestens ein Dutzend Dylan-Songs offiziell, d.h. in den neusten Ausgaben von Lyrics wie auch auf www.bobdylan.com, nicht mehr in der ursprünglichen und auf den Alben dokumentierten Form nachzulesen sind. Zwei der bedauerlichsten Abweichungen habe ich bereits erwähnt; weitere betreffen zum Beispiel «If You See Her, Say Hello», «Groom’s Still Waiting at the Altar», «Blind Willie McTell», «Love Sick», «Tryin’ to Get to Heaven» und «Ain’t Talkin’». Wenn wir uns nun fragen, was Dylan jeweils bewogen haben könnte, ergibt sich ein interessantes Muster: wie im Fall von «Tough Mama» und «Man in the Long Black Coat» geht es häufig nicht nur um beiläufige Formulierungen, sondern um Inhalte, Aussagen, mit denen sich Dylan aus dem einen oder andern Grund nicht mehr identifizieren oder auf die er nicht behaftet werden möchte. Ein früherer Fall war, allerdings nur in den Konzerten, «With God On Our Side», ein Lied, das zwar selten auftauchte, aber wenn, dann bereits in den Achtzigerjahren mit gekürztem oder leicht aktualisiertem Text: die Strophen über die Deutschen und die Russen waren gestrichen, dafür wurde manchmal eine Strophe zum Vietnamkrieg eingefügt.5 Ein anderes Beispiel ist eine kleine, aber bedeutsame Änderung in «Every Grain of Sand»: in der Albumversion (auf Shot Of Love) singt Dylan ganz humanistisch «I am hanging in the balance of the reality of man», in den Konzerten (aber auch bereits in der ersten Demoversion) singt er hingegen streng calvinistisch «of a perfect finished plan».
Ebenso brisant ist die Korrektur in «Blind Willie McTell», wo es wie gesagt um die Streichung der geradezu buddhistischen Zeile «People don’t live or die, people just float» geht – und jene in «Blind Willie McTell», wo in den Konzerten wie nun auch im publizierten Text eine ganze, für den Sinnzusammenhang zentrale Strophe fehlt, nämlich die dritte: «See them big plantations burning/ Hear the cracking of the whips (…) See the ghosts of slavery ships/ I can hear them tribes a-moaning/ Hear the undertaker’s bell» – wenn nun der historische Kontext der Sklaverei wegfällt, dann verschwindet damit auch ein guter Teil der so bedeutungsvollen Gravitas des Songs. Dylan hat ihn ja erst 1997 live zu singen begonnen, seither aber über 200 Mal, fast so häufig wie «Man In The Long Black Coat» … beide jedoch regelmässig nur in der quasi zensurierten Fassung. Warum wohl? Bei «Blind Willie McTell» könnten es politische Rücksichten sein, auf das amerikanische Publikum, zumal in den Südstaaten; bei «Man In The Long Black Coat» sind es vielleicht religiöse Bedenken: man könnte ja «People just float» als allzu amoralisch oder unchristlich empfinden. Abgesehen davon, dass es einem anderen zentralen Gedanken Dylans widerspricht, den er in «Dark Eyes» so schön formuliert hat: «I live in another world/ Where life and death are memorized».

III.
Oder sind das jetzt alles Überinterpretationen? Klar hat Bob Dylan das Recht, die Songs so zu singen, wie es ihm dabei wohl ist. Warum das bei gewissen Zeilen oder Strophen offenbar nicht mehr der Fall ist, das ist natürlich eine höchst persönliche Sache. Und doch bestätigt auch meine jüngste diesbezügliche Entdeckung die Vermutung, dass es hier um äusserst heikle inhaltliche Nuancen geht. Erst im Lauf der letzten Monate bin ich nämlich auf eine Abänderung im wunderschönen und theologisch ausgesprochen aufgeladenen «Ain’t Talkin’» gestossen, die geeignet ist, die Diskussion um Dylans spirituelle Entwicklung gleich nochmals anzustossen. Es geht um die jetzt verschwundene Strophe 6, wo er singt:
All my loyal and my much-loved companions
They approve of me and share my code
I practice a faith that’s been long abandoned
Ain’t no altars on this long and lonesome road6
Immerhin 118mal hat Dylan diesen Song live gespielt, zwischen November 2006 und November 2013; ob diese Strophe von Anfang an fehlte oder erst im Lauf der Zeit verschwunden ist, wäre nachzuprüfen. So oder so, auch sie betrifft einen zentralen Punkt: ist der Glaube, den er praktiziert, nun schon «lange aufgegeben worden», und wenn ja, von wem? Geht es um Judentum, Christentum, oder gar etwas anderes, älteres? In beiden Traditionen gibt es schliesslich Altäre – in welchen denn nicht? Eine höchst mysteriöse Strophe jedenfalls, die dem Song gleich eine spannende zusätzliche Dimension verleiht – die jetzt aber nach neuster Lesart fehlen würde.

Es gäbe noch ein paar andere Eingriffe in wichtige Songtexte zu erwähnen, unter anderem in «If You See Her, Say Hello»7, «Groom’s Still Waiting at the Altar»8, «Love Sick»9 und «Tryin’ to Get to Heaven»10, die mindestens den Verlust von ein paar schönen Zeilen zur Folge haben, aber weniger Anlass zu Fragen in Bezug auf Dylans Motivation geben. Wie gesagt, es gehört ja bei manchen Dichtern zur üblichen Praxis, in Neuauflagen kleinere oder grössere Änderungen vorzunehmen, aus welchen Gründen auch immer. Trotzdem ist das Ausmass und bei mehreren Songs auch der mögliche Kontext dieser Korrekturen frappant, umso mehr als Dylan sich bei Gelegenheit recht klar dazu geäussert, was er für gelungene und was er umgekehrt für problematische Sätze hält, so zum Beispiel schon 1991 im Interview mit Paul Zollo in der Zeitschrift Song Talk.11 Was ihn offensichtlich stört, sind Zeilen, die allzu schnell zu Interpretationen Anlass geben – in seiner Poetologie ist es wünschenswert, dass ein Bild, eine Wendung, ein Motiv die Prägnanz und die Kraft hat, für sich allein zu stehen, ohne gleich gedeutet werden zu müssen. So wie er das einst in «Gates of Eden» im Zusammenhang mit Träumen postuliert hat: «with no attempt to shovel the glimpse into the ditch of what each one means», dieser Verzicht ist nicht nur wünschenswert, er ist auch notwendig, wenn aus lebendiger Poesie nicht tote Thesen werden sollen. Eigentlich wäre es dringend, dass Dylan, spätestens seit dem Nobelpreis, zu einer Frankfurter Poetikvorlesung eingeladen würde… wer weiss, vielleicht kann sich ja unser Freund Heinrich Detering darum kümmern! Oder wir machen mal, in Frankfurt, Basel oder Milano, einen Kongress zu diesem Thema – am besten mit möglichst vielen Dylan-Übersetzern, am liebsten auch aus Frankreich und Spanien!12
MARTIN SCHÄFER 6.5.2021 (On the sixth day of May, not quite in the drizzlin’ rain)
Fußnoten:
1 Jennifer Maloney, «Bob Dylan: Simon & Schuster Speeds Up Publication of Lyrics Book», Wall Street Journal (October 13 2016).
2 Bob Dylan, The Lyrics: Since 1962, edited by Christopher Ricks, Lisa Nemrow and Julie Nemrow (New York/London: Simon & Schuster 2014)
3 „But that line…is an intellectual line. It’s a line, “Well, the enemy I see wears a cloak of decency,” that could be a lie. It just could be. Whereas “Standing under your yellow railroad,” that’s not a lie“ (in: Paul Zollo, „SongTalk Interview, p. 78); vgl. https://www.interferenza.net/bcs/interw/1991zollo.htm
4 Die Zeile bezieht sich aber auch, noch naheliegender, auf Joan Baez‘ Song „To Bobby“ aus dem Jahr 1971 – und auf einen Artikel in der New York Times von Dylan-Biograph Anthony Scaduto, der den Baez-Song sogar im Titel anführt („Won’t You Listen to the Lambs, Bob Dylan?“, NYT November 28, 1971, p. 34). Gleich zwei zusätzliche Gründe, die Dylan bewogen haben könnte, gerade diese Zeile zu ersetzen! Nach dieser Lesart ergibt freilich auch die Ersatzzeile sehr wohl Sinn: auch „I hear you callin’, same old thing like it was before“ könnte sich ja durchaus an die wackere Kämpferin Joan Baez richten.
5 Erstmals zu hören in der Version der Neville Brothers auf dem von Daniel Lanois, kurz vor Oh Mercy, produzierten Album Yellow Moon. Dylan selber hat sie mindestens einmal live gesungen, im Jahr 1988. Als der Song dann auf MTV Unplugged (1994) nochmals auftauchte, fehlten die Strophen zum Zweiten Weltkrieg und zum Kalten Krieg definitiv. In den Lyrics und auf der Webseite sind sie unverändert da.
6 Immer noch leicht zu finden bei https://www.lyricfind.com.
7 3. Strophe („We had a falling out“) gestrichen! Weitere Änderungen in allen Strophen (z,B. „Either I’m too
sensitive, or else I’m gettin’ soft“ ersetzt!) D.h.: neue Version entspricht der alternat. Version bei Ricks (p.
493)! Aber nicht geändert in der italienischen Ausgabe – und nicht auf bobdylan.com!
8 1. Strophe, Zeilen 3-4: „Been treated like a farm animal on a wild goose chase“ wird zu „She was walking
down the hallway while the walls deteriorated“.
9 Änderungen in Strophen 2 und 4: statt „I spoke like a child“ etc. NEU „You thrilled me to my heart“ etc.; statt
„Sometimes I wanna take to the road and plunder“ NEU „Sometimes I feel like being plowed under“!
10 Strophe 3, Zeilen 3-4: „When you think that you’ve lost everything/ You find out you can always lose a little
more“ ersetzt durch „I tried to give you everything/ That your heart was longing for“; die Zeile erscheint
stattdessen in Strophe 5 anstelle von: „Some trains don’t pull no gamblers/ No midnight ramblers like they did
before“!!!
11 „But that line…is an intellectual line. It’s a line (like), “Well, the enemy I see wears a cloak of decency,” that
could be a lie. It just could be. Whereas “Standing under your yellow railroad,” that’s not a lie“ (SongTalk,
p. 78; https://www.interferenza.net/bcs/interw/1991zollo.htm)
12 Im Rahmen der Beschäftigung mit Dylans unerwartet umfangreicher Redaktionsarbeit für die neusten Lyrics (und natürlich auch für die Songtexte auf http://www.bobdylan.com) habe ich mit zweien seiner Übersetzer Kontakt aufgenommen, Gisbert Haefs für die deutsche und Alessandro Carrera für die italienische Ausgabe, die vertraglich verpflichtet waren, alle (oder fast alle) diese Änderungen zu übernehmen. Dabei habe ich ganz Erstaunliches erfahren, nämlich in welcher Form, wie kurzfristig und zum Teil wie widersprüchlich sie diesmal ihre Vorgaben von Dylan bzw. vom Verlag Simon & Schuster erhalten haben… Was übrigens erklärt, warum die deutsche und die italienische Ausgabe in Sachen Korrekturen gar nicht immer übereinstimmen! Ein anderer, wichtiger Unterschied ist, dass die italienische Edition bei Feltrinelli (wie übrigens auch die spanische) schon mindestens seit 2001 autorisierte Fussnoten des Übersetzers enthalten darf… was bei der deutschen, zum grossen Bedauern von Gisbert Haefs, nicht erlaubt war.
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