Ein Geburtstagsgruß von Fabian Williges an Bob Dylan

Wenn in meiner Familie ein Geburtstag ansteht, fragen wir nach den Glückwünschen immer, wie alt der Jubilar nun geworden sei, um darauf zu erwidern: „So alt wird kein Schwein!“ Das ist natürlich scherzhaft gemeint. Denn ein liebes Familienmitglied gerade an seinem Ehrentag ernsthaft mit einem sich im Dreck suhlenden Allesfresser zu vergleichen, wäre doch durchaus unangebracht.
Vor allem verbindet man mit einem Schwein eher Niedriges, Dreckiges. Ein Mensch, den wir ein Schwein nennen, ist entweder sexuell ein kleines Ferkel oder aber ethisch-moralisch eine verdorbene Sau. Manchmal hat man sich auch nur schmutzig gemacht, weil man eben isst wie ein Schwein. Gut, nun habe ich den Begriff durch den Begriff erklärt; aber meine Leser werden mich wohl verstanden haben. Schlechten Menschen wünscht man kein langes Leben. Die sollen besser so früh wie möglich abtreten und in der Hölle schmoren. Wenn jemand nun einen hochjährigen Geburtstag feiert, dann weil der liebe Gott ihn so lang hat leben lassen. Der muss doch ein guter Mensch sein.
Der Spruch vom Alter des Schweins geht auch deshalb so flott von den Lippen, weil ein tatsächliches Schwein in einem industriellen Mastbetrieb selten älter als ein halbes Jahr wird. Dabei könnten gemeine Hausschweine um die 15 Jahre leben, ein Wildschwein in freier Natur nur etwa halb so lang. So alt wie Bob Dylan heute geworden ist, nämlich 83 Jahre, so alt wird nun wirklich kein Schwein.
Ich weiß nicht, ob Bob Dylan ein besonderer Liebhaber von Schweinefleisch ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob er in früher Jugend überhaupt Schweinefleisch konsumiert hat. Schließlich wurde Robert Allen Zimmerman in eine jüdische Familie geboren. Mit 13 Jahren feierte er seine Bar Mitzvah und erst gegen Ende der 1970er Jahre wurde Dylan ein Wiedergeborener Christ.
Neben Fragen des Caterings gibt es aber einen weiteren „schweinischen“ Punkt in Dylans Biografie. Der Session-Musiker Hargus Melvin Robbins (1938–2022) wurde bereits seit seiner Schulzeit an der Tennessee School for the Blind in Nashville Pig genannt. In einem Interview erklärte er: „I had a supervisor who called me that because I used to sneak in through a fire escape and play when I wasn’t supposed to and I’d get dirty as a pig.“
Als Keyboarder war er in Nashville hochgeschätzt. Er ist zu hören bei Hits wie Dolly Partons I Will Always Love You oder The Gambler von Kenny Rogers. Das grandiose Dylan-Cover-Album Any Day Now von Joan Baez hat er mit eingespielt und das wunderbare Album Blonde on Blonde von unserem heutigen Jubilar.
Tja, wie werden Hits gemacht? Im Deutschen könnte man sagen, dass man neben einem flotten Text, einer eingängigen Melodie und ein wenig Talent eben auch Schwein haben muss. In Nashville brauchte es dazu vor allem „The Pig“.
In meinem Text soll es aber vornehmlich nicht um Speisepläne und auch nicht um Spitznamen gehen, sondern um das Schwein als literarische Gestalt. Dann aber wieder in all seinen Formen, als pig (das lebende Tier), pork (die zubereitete Speise), hog (das große Masttier), boar (das männliche Zuchttier) oder swine (die wissenschaftlich betrachtete Allgemeinheit der Schweine). Das Schwein kommt immer mal wieder vor im Schaffen des jüdisch-christlichen Literaturnobelpreisträgers. Fast scheint es eine nicht zu leugnende Bedeutung zu haben.
Tiere überhaupt spielen in bildhafter Sprache schon immer eine große Rolle, weil sie die Nachbarn des Menschen sind: wir nutzen sie, wir jagen sie, wir erfreuen uns an ihnen und wir fürchten sie. Wir kennen ihr Verhalten, ihre Eigenschaften, aber sie sind auch weit genug vom tatsächlichen Menschen entfernt, um einen Interpretationsspielraum zu bieten. Und unser geburtstäglicher Songwriter liebt und lebt die bildhafte Sprache.
Zu den einfachsten Beispielen mag gehören, dass man in The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest (1967) von einem Fremden erfährt, der as quiet as a mouse spricht. Einerseits konkreter und anderseits in der Bedeutung viel offener und dunkler ist die Zeile aus Changing oft he Guards (1978): A messenger arrived with a black nightingale.
Manchmal schaffen es die Tiere bei Bob Dylan sogar bis in den Songtitel: Black Crow Blues (1964), All the Tired Horses (1970), New Pony (1978), Cat’s in the Well (1990) oder gleich die gesamte Tierwelt in Man Gave Names to All the Animals (1979).
Wie sieht es nun mit den Schweinen aus? Hat Dylan jemals schweinische Texte geschrieben? Einige habe ich gefunden, um sie hier nach Alter aufgelistet wiederzugeben.
Im Bluesrock-Klassiker On the Road Again aus dem Jahre 1965 fühlt sich das lyrische Ich so ausgehungert wie ein Mastschwein, das wahrscheinlich schon lange nicht gefüttert wurde. Die Antwort ist die, die man einem notorischen Allesfresser eben gibt – vielseitig aber nicht zwingend appetitlich.
Well, I asked for somethin’ to eat, I’m hungry as a hog
So I get brown rice, seaweed and a dirty hot dog
(On the Road Again, Strophe 3, von: Bringing It All Back Home, 1965)
Das ist überhaupt ein tierisches Lied: Da findet man frogs inside my socks und is trying to pet your monkey. Und wenn mal ein Mensch auftritt, trägt er a Napoleon Bonaparte mask. Napoleon heißt auch das Schwein in George Orwells Animal Farm, das gern als Verkörperung Joseph Stalins interpretiert wird. Aber das ist hier wohl nur ein Zufall.
Mit The Band nahm Dylan einen überreichen und bunten Strauß an Liedern auf. Viele von ihnen sind schwer zu deuten. Manche behaupten, es seien Quatschtexte, die aus Sektlaunen heraus entstanden. Andere meinen, es sei kein Sekt im Spiel gewesen, sondern stärkere Substanzen.
Scratch your dad, do that bird
Suck that pig and bring it on home
Pick that drip and bake that dough
Tell ’em all that Tiny says hello
(Tiny Montgomery, Strophe 3, von: The Basement Tapes, 1967 bzw. 1975)
Eine Interpretation des Textes lässt uns an ungehörige Ferkeleien denken. Es kann aber auch harmloser Nonsens sein. Beide Möglichkeiten gefallen mir.
Ähnlich uneindeutig in ihrer erwünschten Lesart ist die folgende Country-Pie-Szenerie aus dem Weichbild Nashvilles:
Just like old Saxophone Joe
When he’s got the hogshead up on his toe
Oh me, oh my
Love that country pie
(Country Pie, Strophe 1, von: Nashville Skyline, 1969)
Hogshead ist wortwörtlich ein Schweineschädel. Hier hat der Joe aber sicherlich ein großes Whiskeyfass auf dem Fuß. Dieses wird auch Hogshead genannt. Ob er es Saxophon spielend auf seinen Zehen balanciert oder ob es ihm auf den Fuß gefallen ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dafür kann ein echter amerikanischer Country Pie durchaus Schweinefleisch beinhalten.
Mit der Hinwendung zum Christentum mag das Schweinefleisch auf den Speiseplan des Barden geklettert sein; die Bedeutung des Schweins in seinen Texten hat sich auf jeden Fall vertieft. 1979 besingt er eine Szene aus dem Buch Genesis, von der ich in noch keinem anderen Lied habe singen hören, die aber philosophisch eine ganz entscheidende ist. Der Mensch – noch im Singular – benennt die Tiere im Paradies. Nicht Schwerpunkt dieses Liedes aber der Geschichte ist, dass Gott und Adam bei dieser tierischen Parade kein gleichwertiges Gegenüber für Adam finden, woraufhin Gott Eva erschafft.
He saw an animal leaving a muddy trail
Real dirty face and a curly tail
He wasn’t too small and he wasn’t too big
“Ah, think I’ll call it a pig”
(Man Gave Names to All the Animals, Strophe 4, von: Slow Train Coming, 1979)
Das Lied war sogar eine der seltenen Single-Auskopplungen. In den sechs bestechend einfachen und an ein Kinderlied erinnernden Strophen beschreibt Dylan die Benennung von Bär, Kuh, Bulle, Schwein, Schaf. Ein Wildtier und drei Nutztiere. Das Rind teilt er aber in eine männliche und eine weibliche Strophe, was man als Hinweis auf den biblischen Fortgang der Geschichte für den Menschen deuten könnte (s.o.). Zuletzt beschreibt Dylan die Schlange, nennt aber nicht ihren Namen. Das Lied ist nun vorbei; was danach kommt, das weiß der Bibelkundige.
Schier Unglaubliches berichtet uns Dylan 1990 auf seinem Album Under the Red Sky:
It’s unbelievable like a lead balloon
It’s so impossible to even learn the tune
Kill that beast and feed that swine
Scale that wall and smoke that vine
Feed that horse and saddle up the drum
It’s unbelievable, the day would finally come
(Unbelievable, Strophe 4, von: Under the Red Sky, 1990)
Der Schritt von beast zu swine ist ein gewaltiger. Wir finden beide im Neuen Testament. Das Tier der Offenbarung ist salopp gesagt der Endgegner beim Kampf des Guten gegen das Böse. Das Schwein steht in der Geschichte vom Verlorenen Sohn für den moralischen Tiefpunkt des Helden, bevor er wieder zum Vater zurückkehrt. Dass dieser Tag nun – der Tag der Rückkehr zum Vater / der Tag der Apokalypse – endlich anbricht, ist unglaublich.
Auf dasselbe Gleichnis vom Verlorenen Sohn hat sich Dylan elf Jahre später vielleicht noch einmal bezogen; Geschirrspülen und Schweinefüttern unter dem Sternenhimmel.
Knocking on the door, I say, “Who is it where are you from?”
Man says, “Freddy!” I say, “Freddy who?” He say, “Freddy or not here I come”
Poor boy, ’neath the stars that shine
Washing them dishes, feeding them swine
(Po’ Boy, Strophe 9, von: Love and Theft, 2001)
Im kurzen Dialog mit einem angeblichen Freddy steckt ein Wortspiel. Ready or Not, here I come ist der Ausruf des zählenden Suchers beim kindlichen Versteckspiel. Die Delfonics nutzten die Zeile 1968 für ein erwachsenes Hasche-Spiel, welches die Fugees 1996 neuinterpretierten – nur fünf Jahre vor Dylans Song.
Dylan meinte in einem Interview, dessen Quelle ich heute nicht mehr benennen kann, dass er keine Zeit habe, die aktuelle Musik zu rezipieren und darauf zu reagieren. Doch das könnte eine Nebelbombe sein, wenn wir uns den letzten Text anschauen.
Denn hier verschreibt sich das lyrische Ich der Suche nach Alicia Keys. Ein solcher Bezug auf eine 40 Jahre jüngere Künstlerin ist in der Tat ungewöhnlich. Am 27. Februar 2002 hatten beide zur 44. Grammy-Verleihung einen Auftritt. Sie haben aber bis heute weder eine geschäftliche noch eine private Beziehung. Im Rolling-Stone-Interview 2006 sagte Dylan über Keys: “I remember seeing her on the Grammys. I think I was on the show with her; I didn’t meet her or anything. But I said to myself: There’s nothing about that girl I don’t like.”
I been to St. Herman’s church and I’ve said my religious vows
I’ve sucked the milk out of a thousand cows
I got the porkchops, she got the pie
She ain’t no angel and neither am I
(Thunder on the Mountain, Strophe 3, von: Modern Times, 2006)
Die St. Herman’s church ist dem russisch-orthodoxen Missionar Herman von Alaska geweiht. Er ist ein Schutzheiliger Nordamerikas. Sein Gedenktag ist der 15. November. In Alaska gibt es ein Priesterseminar, welches seinen – des Heiligen – Namen trägt. Man kann aus den Zeilen eine Kritik an den kommerziellen TV-Kirchen herauslesen, die Millionen scheffeln, während sich Bob Dylan und Alicia Keys schon seit Jahren für tatsächlich gemeinnützige Organisationen einsetzen, natürlich auch, ohne selbst dabei ganz zu verarmen. Wer wäre denn heute schon solch ein selbstloser Engel? Aber Keep A Child Alive, Amnesty International, City of Hope und End Hunger Network danken euch!
Also: Herzlichen Glückwunsch, Bob Dylan! – 83 Jahre; so alt wird kein Schwein.

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