Meine Dylan-Probleme

von Prof. Dr. Hartmut Fladt

Im englischsprachigen Wikipedia-Artikel heißt es:

Often regarded as one of the greatest songwriters of all times”.

Darüber lässt sich vortrefflich reden und streiten. Auch mit mir.

Im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel heißt es:

Er gilt als einer der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts.“

Musiker. Da kann ich ein gewisses Lächeln nicht unterdrücken. Nur ich?

„Na ja,“ sagen die Musik-Experten und Freunde der differenziert-kreativen Tonkunst, „für so’n Lyriker ist die Musik von diesem Dylan wirklich gar nicht mal schlecht.“

„Na ja,“ sagen die Lyrik-Experten und Freunde der gepflegten Sprach-Artistik, „für so’n Musiker sind die Texte von diesem Dylan wirklich gar nicht mal schlecht.“

Wie groß ist Bob Dylan? Diese Frage gibt es wirklich im Netz als abrufbare Kategorie. Neugierig geworden durch „one oft the greatest“ klicke ich diese Rubrik an und bekomme die nüchterne Antwort: 1,71m. So auf den Boden schlichter Tatsachen zurückgeholt versuche ich, einen Weg zwischen der Skylla einer kritischen persönlichen Bestandsaufnahme und der Charybdis einer nobelpreisgekrönten weltweiten Anerkennung zu finden. Die Wahl des mythologischen antiken Bildes vom Engpass zwischen zwei unterschiedlichen, aber in ihrem Gefährdungs-Potential ähnlich unheilermöglichenden Polen, die da durchsegelt werden müssen, soll verdeutlichen, dass auf beiden Seiten viel Widersprüchliches zu finden ist, das benannt werden muss, wenn ein blindes Zerschellen vermieden werden soll.

Die literarisch-musikalische Sozialisation von Bob Dylan – nicht nur den Namen hat er beim Waliser Dylan Thomas gefunden – weist eine stattliche Ahnenreihe von Beeinflussern auf, von der Antike und der Bibel über das Hochmittelalter, Shakespeare, Beaudelaire, Rimbaud, Joyce, (dass bis ins 20. Jahrhundert hinein sozusagen kein einziger Ton auftaucht, ist bezeichnend), dann endlich die amerikanischen Folk-Poeten der gesellschaftskritischen Singer-Songwriter-Tradition wie Guthrie und Seeger und der Blues, später R&B und frühe Rockmusik. Dass in dieser Galerie aber auch Brecht genannt wird, ist für mich nur partiell zu verstehen – wir werden, am Beispiel Like a Rolling Stone, sehen, warum. Die Musik war und blieb Dylans Stiefkind, immerhin ein geliebtes und durch viele Höhen und Tiefen für die gewünschte Breitenwirkung auch dringend benötigtes. Musik als nützlich-zuverlässiges Transportmittel für die Texte, ohne Anspruch auf künstlerisch gleichberechtigte Selbstständigkeit? Mangelnde Professionalität in verschiedenen musikalischen Parametern ist Dylan während der gesamten Laufbahn immer wieder attestiert worden, und in Parodien wurden seine Probleme schon mit dem Stimmen der Gitarre immer wieder liebevoll vorgeführt. Nicht umsonst wollte Jacob Dylan, Bobs Sohn, keinen Gitarren-Unterricht vom Vater haben.1 Auch ein „nicht-singen-Können“ im Sinne eines im traditionellen Sinne makellos ausgebildeten „Schöngesangs“ wurde konstatiert, aber darin muss ich nicht unbedingt einen Mangel sehen, denn viel entscheidender ist in Dylans Genres die Kunst des charakteristischen vokalen Gestaltens der Texte, des Erzählten, der Szenen, ihren Gesten, Haltungen, der kommentierenden Tonfälle, ihrer Körperlichkeit, also in einem mit dem modischen Begriff „Performance“ nur oberflächlich beschriebenen „Gesamt“ der Gestaltungsweisen. An Pop-Akademien müsste ein Fach „die Kunst des charakteristischen nicht-singen-Könnens“ etabliert werden. (Und dennoch wäre es, wohl nicht nur für mich, beruhigend gewesen, wenn Bob Dylan all die schönen Möglichkeiten des Singenkönnens im ganz traditionellen Sinne auch als Teil der Performanz hätte einbringen können.)

Jetzt sollen kritische Kriterien an Berühmtheiten aus dem Repertoire Dylans entwickelt werden. Blowin‘ in the Wind (1963) zeigt eine Mischung aus einer zitierten, originalen Gospel-Melodie und den drei seit dem 17. Jahrhundert etablierten „europäischen“ Grundharmonien, die – bei einfachen, aber doch individualisierten Wendungen der Stufen I, IV und V – ebenso eingängig wie gitarrenfreundlich (D-Dur, auch G-Dur in der Aufnahme 1976 mit Joan Baez) eingesetzt sind:

  • No More Auction Block war der zum Gospel gewordene Protest gegen die Sklaven-Auktionen auf dem erhöhten Podest, bei denen auch intakte Familien bewusst für immer getrennt wurden.
  • Dylan überträgt diesen Protest in die Dimensionen der Bürgerrechtsbewegung und der Friedensbewegung der 60er Jahre, hält die Sammlung seiner neun rhetorischen Fragen mit bildstarker und poetischer Unmittelbarkeit (3X3 Doppelzeilen) aber im Inhalt so allgemein, dass eine sehr hohe Identifizierbarkeit ermöglicht wird. Die unveränderten Refrains – mit ihrer schönen, in vielen Volkskulturen verankerten „Wind“-Metapher für die „Antworten“, dem „Haschen nach dem Wind“ der Luther-Bibel anverwandt – sorgen zusätzlich für unerschütterlich symmetrische Abläufe. Sie werden durch die kommentierenden Interpolationen der Melodie auf der Blues-Mundharmonika, die wie üblich als auch optisches Signal auf die Gitarre montiert ist, unmissverständlich mit Dylans Markenzeichen gestempelt, gerade durch ihre „windschiefe“ musikalische Faktur: die Geste ist wichtiger als „korrekte“ Töne.
  • Typisch aber ist, dass vielen solcher Gospel-Melodien gern eine „schwarze Authentizität“ attestiert wird, obwohl sie – wie diese – Synthesen aus Elementen verschiedenster Musikkulturen sind, unter denen das, was als „blackness“ gilt, primär durch Performanz-Merkmale bestimmt ist. Hier ist die offensichtlich zuvor einmal pentatonisch gewesene Melodiestruktur durch die Einbettung in die durmolltonalen Harmonien in Richtung des „westlich“-christlichen heptatonischen Dur-Generalbass-Chorals mit den diatonischen Halbtonschritten gerückt.
  • Das „politisch korrekte“ Konstatieren einer „authentisch afrikanischen Musikkultur“ resultiert in der Regel aus der Unkenntnis der Tatsache, dass es mehr als ein Dutzend solcher – ziemlich unterschiedlichen – Kulturen und Musikkulturen in Afrika gab (partiell sogar noch gibt). Welche ist gemeint? Und auch sie ihrerseits haben ihre Lebendigkeit durch kreatives Aufgreifen und Weiterentwickeln von Vorgefundenem, Adaptiertem oder sogar durch kulturelle (immer zugleich ökonomische) Hegemonie Aufgezwungenem jeglicher Art gewonnen. Aktive Auseinandersetzung auch mit Aufgezwungenem generiert Kreativität.
  • „Authentizität“ ist in der Regel das Produkt einer intentionalen Zuschreibung des „fremden Blicks“ auf Verhältnisse, bei denen eine Art von geschichtslosem Naturzustand hypostasiert wird – das gilt auch für den analyseverweigernden und darum ebenfalls fremden Blick auf die „eigene“ Kultur.

Die angestrebten Allgemeingültigkeiten der Aussagen und der künstlerischen Mittel, ausdrücklich auch der Musik und der Performance mit all ihren sehr charakteristischen Unzulänglichkeiten erlaubten sehr viele Coverversionen des Songs, so von Elvis Presley, Joan Baez, Marlene Dietrich und vielen anderen, auch mit Mainstream-„Professionalisierungen“, verbunden oft mit ent-individualisierenden Glättungen.

Warum nun halte ich den Song, bei allen kritischen Anmerkungen, mit all dem Ungehobelten gerade in der Musik, für gelungen, finde ihn vielfältig und sogar schön? Antworten auf diese Frage sind ja soeben argumentativ entfaltet worden. Um aber die programmatischen metaphorischen Verallgemeinerungs-Tendenzen bei Bob Dylan an dieser Stelle noch fortzusetzen:

Die Antwort (so die geläufigste deutsche Refrain-Übersetzung) weiß ganz allein der Wind. Und es schließt sich die ebenso neugierige wie tiefsinnige Kinder-Frage an:

Was tut der Wind, wenn er nicht weht?

Er weht mich also nun hin zu einem für mich viel problematischeren „Fall“. 1965 schloss

„… Bob Dylan auf dem Newport Folk Festival ebenso spektakulär wie symbolträchtig seine Gitarre an einen elektrischen Verstärker an. Während er mit dem nöligen „Like a Rolling Stone“ seine bisherigen Anhänger aus dem Folkmusik-Lager völlig verprellte, vermittelte er der populären Musik damit ein neuartiges künstlerisch-politisches Selbstbewusstsein. Der Umgang mit den Hebeln der kommerziellen Kulturproduktion hatte den morbiden Charme des Aufruhrs von Bühnenguerilleros erhalten. Die Grundlage dafür bildete ein verändertes Konzept des Musizierens, das der populären Musik unter der programmatischen Bezeichnung „Rockmusik“ völlig neue Perspektiven erschloss.“2

Dass ihn auch noch eine Rockgruppe, die „Paul Butterfield Blues Band“, begleitete bescherte Dylan den Zorn sehr vieler seiner Fans – für mich als Komponisten, geübt, primär die Veränderungen in den musikalischen Strukturen (damit verbunden natürlich auch in der Ausrichtung und den Strukturen der Texte) zu beachten, zunächst unbegreiflich: da änderte sich im Blues- und R&B-geprägten Folk-Habitus (fast) gar nichts. Die „Elektrifizierung“ brachte naturgemäß andere Sounds, andere Instrumente, andere „Inszenierungen“ im Zusammenspiel der Klangerzeugungen und ihren performativen Präsentationsweisen. Aber die Songform, die Melodik, die Harmonik, Rhythmik und Tempo, zusammengehalten durch den angestrebten Stil, Charakter/Gestus, Songtypus, sie blieben – typisch für die vor-digitale Phase – doch erhalten. (Die spätere Digitalisierung bewirkte zunächst auch nicht die viel beraunte „Revolution“, sondern brachte schlicht immense Erweiterungen von Möglichkeiten von Material und Produktionsweisen.) Wieder zurück in die Musikgeschichte:

„Der jugendrelevante Teil der Popmusik stand 1965 in einem politisch aufgeladenen Kontext, der diese Musik von Grund auf veränderte. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Dylans nachdenklichen Texten wurde die Popmusik nun reflektierter, ernster und politischer. Mit Like a Rolling Stone hatte er 1965 wie kein anderer Rockmusik zu einer Kunstform gemacht, in der sich Subjektivität, Privatheit, Politik und Öffentlichkeit auf eine einzigartige Weise vermischten.“3

(Quelle: CBS)

Like a Rolling Stone ist zweifellos einer der folgenreichsten Songs des Singer/Songwriters. Hier möchte ich auf mögliche Brecht-Einflüsse und auf doch erhebliche Unterschiede verweisen. Gern wird die Grund-Metapher auf ein englisches Sprichwort zurückgeführt: “A rolling stone gathers no moss”, „Ein rollender Stein setzt kein Moos an“.

  • Das existiert schon seit der Antike und wurde mit vielen Varianten in vielen Kulturen mit ebenso vielfältigen Bedeutungen ausgelegt. Rollende Steine sind Geröll-Phänomene, durch Erdrutsche und Erdbeben jeglicher Verursachung bedingt, viel häufiger aber ein Phänomen des bis in die Tiefe strömenden, des fließenden, treibenden, ja stürzenden Wassers, das jeden Stein permanent bearbeitet, verändert, auch dabei moosähnliche Unterwasserbepflanzung sowohl ermöglicht als auch verhindert (eine Brecht-Ambiguität wie aus dem Bilderbuch).
  • Die „rolling stones“ sind Spielbälle der auf sie einwirkenden Kräfte, haben ihre Selbstbestimmung verloren, im Wasser wie außerhalb des Wassers. Daher wird in den Refrains des Songs, die unverändert bleiben, das (soziale, auch ganz persönliche) fremdbestimmte Ausgeliefertsein besungen, als Resultat eines permanenten Abstiegs des besungenen weiblichen „Du“ aus einem hochmütig gelebten upper-class-Status in die zuvor verachteten und prekärsten Ränder der sozialen Hierarchie.

Das Verfahren, auf bildreiche, assoziationsträchtige, im kulturellen Bewusstsein verankerte Metaphorik zurückzugreifen und auf konkrete Gegenwärtigkeit zu projizieren, ist ein zutiefst „brechtisches“, und das Bild der „rolling stones“ wurde von Brecht in „Schwejk im II.Weltkrieg“ im „Lied von der Moldau“, entstanden 1943 im USA-Exil, verwendet. In vier Zeilen einfacher, bilderreicher Sprache wird ein metaphorisches, zugleich symbolisches Panorama der Widersprüche entfaltet, die den Impuls der Veränderung und der Veränderbarkeit in sich tragen. Schon das schlichte Doppelbild des eröffnenden Satzes ist „welthaltig“ auf eine Weise, über die lang nachgedacht werden kann.

„Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“

  • Hier geht es – im von der Wehrmacht und der SS besetzten Prag – zwar auch um Fremdbestimmung und Ausgeliefertsein, substantieller aber ist der Gedanke der notwendigen Veränderung, die unaufhaltsam ist, unaufhaltsam sein muss, biblisch-volkssprachlich später so formuliert:

„Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“

  • Die Musik von Hanns Eisler setzt das Bild und seine Semantik, sogar das Prinzip der historischen Wandelbarkeit auf eine komplementär verdeutlichende Weise in ihre eigene metaphorische „Sprache“ um: zu hören und verstehen ist das rastlose Fließen, Strömen, Verändern des Elements „Wasser“ in den raschen permanenten Wellenbewegungen der gebrochenen Drei- und Vierklänge, in den polyrhythmisch akzentuierten, gezackt dissonant kommentierenden Kommentaren der Zwischenspiele und – als ein Zeichen für die dialektisch produktiv widersprüchliche Dimension historischer Wandelbarkeit – das melodische Zitat des Hauptmotivs der Symphonischen Dichtung Die Moldau von Bedřich Smetana, das zusätzlich einen sehr hohen, sogar populären Wiedererkennungswert hat.
  • Das mexikanische Volkslied La Bamba (in der Pop-Version von Ritchie Valens; da sind schwarzafrikanische Wurzeln wegen der substanziell harmonisch generierten Grundstruktur nicht anzunehmen) ist für Dylan nach eigenem Bekunden Vorbild geworden4, jedoch nur durch die Übernahme jener drei Akkorde, die im Unterhaltungsmusik-Jargon gern als „Stube, Kammer, Küche“ bezeichnet werden. Sie werden in Viertakt-Gruppen ostinat wiederholt, in „Reinform“ im Refrain. In den Strophen kommen, in der Version mit der Butterfield-Band, im Arrangement Bass-Durchgänge und Vertauschen der Positionen der 3 Akkorde, auch Variantakkorde („Umkehrungen“, Slash-Akkorde) vor.
  • Gerade von den Massenproduktionsstätten der US-amerikanischen Country Music sind die berühmten Drei Akkorde (die in wirklich authentischer vor-kolonialer afrikanischer Musik gar nicht existieren und „weißer Kulturimport“ sind) trotzig als Qualitätsmerkmal herausgestellt worden und zur allgemein gebräuchlichen Redensart mutiert. Emmylou Harris, die große Country-Sängerin, wurde gefragt nach der Essenz ihrer Musik, und sie sagte die geflügelten Worte: „Drei Akkorde und die Wahrheit.“ Es ist doch schön, wenn die drei-Akkorde-Wahrheit so problemfrei und auch so widerspruchsfrei ist, dass sich auf diese Weise ALLES ausdrücken und betönen (nicht „vertonen“) lässt. Ob traurig, fröhlich, überschwänglich, verbissen, zerknirscht, schuldbewusst, heiter: I, IV, V (Tonika, Subdominante, Dominante, in Dur) passt immer, wie die Standard-Größen bei Armee-Uniformen.5 Dass auf der Grundlage der „drei Akkorde“ auch individuellere und differenziertere Musik möglich ist, war an Blowin‘ in the Wind deutlich geworden – da war die schöne Gospel-Melodie allerdings eine metaphorische Geburtshelferin.
  • Jetzt ist aber La Bamba ein ausgelassenes, fröhliches, partiell sogar satirisches Tanzlied, zu dem diese Akkordfolge, ihr Rhythmus, ihre Wiederholungsstruktur ausgezeichnet passen. Wie in aller Welt kommt Dylan auf die Idee, seinen schwerbeladenen Text auf diesen ja vorgegebenen Grundcharakter zu pressen? Wie würde man den Grundcharakter des Songs beschreiben, wenn man den Titel nicht kennen würden und nichts vom Text verstehen würde?
  • Ist es möglich, dass Dylan seinen Text, in dem das Private politisch ist und in dem die gezeigten oberflächlichen Verhaltensweisen auf gesellschaftskritische Tiefenschichten hindeuten – der aber gleichzeitig seine literarischen Ambitionen deutlich macht – , durch die Musik bewusst einem Prozess der Vergleichgültigung aussetzen will?

Da ist sie wieder, die Diskrepanz zwischen dem im Genre Songwriting (beim Begriff „lyrics“ kräuseln sich immer noch meine Nackenhaare, auch wenn ich ihn selbst benutze) Literatur-Nobelpreis-würdigen Text-Autor Dylan und dem tendenziell dilettantischen Komponisten und Performer. Konstatiert wurde am Beispiel Blowin`in the Wind, dass offensichtliche Unzulänglichkeiten dennoch zu einer Unverwechselbarkeit führen können.

  • Die erzählenden Strophen hier bei den rolling stones offenbaren gnadenlos ihre Diskrepanz: große Mengen Text werden in den Strophen auf eine winzige Menge musikalischer Substanz gestülpt, mit nur einem Hauch von kreativer, spezifisch musikalischer Individualisierung. Die kommt allein durch den Inhalt, die scharfe Gestik in der Artikulation des Textes und die knarzend-unsaubere Singweise.
  • Könnte das als Kokettieren mit einer satirisch gedachten Auffassung des Textes und seiner Darstellungsweise gedeutet werden? Aber auch ein solcher rezitativischer Sprechgesang auf der Basis von La Bamba könnte musikalisch erheblich inspirierter sein, auf Wendungen des Textes wenigstens reagieren.

Erzählt wird von einer persönlichen Ausnahme-Situation, eine Abrechnung mit einer Frau, der es nur um den gesellschaftlichen Aufstieg geht, um jeden Preis, und dabei als Ich, als Persönlichkeit ins Schlingern gerät, haltlos wird „like a rolling stone“. Der Song insgesamt ist fast schmerzlich schematisch aufgebaut – was bei einem nur-Tanzlied ja eine Grund-Voraussetzung wäre. Auch der Text ist zwar formal schematisch, aber inhaltlich sehr komplex. Die Musik reproduziert nur einfachste Klischees. Musikalische Individualisierung fällt weitestgehend aus – dafür gibt es sie im Übermaß im Text.

Mir wird immer unbegreiflich bleiben, wie man als „Musiker“ und kreativer Mensch so wenig neugierig sein kann auf die unendlich reiche Welt der musikalischen Möglichkeiten, auf das schlichte sinnliche Erproben von Innovationen, auch im Sinne der intendierten Aussage. Und ich frage mich: ist dieses Folk-Rock-Stück aus der völlig unhinterfragten männlichen Perspektive des zuvor vom Du beleidigten Missachteten schon in die Mühlen der durch „Me too“ zugespitzten gegenwärtigen Gender-Debatte geraten? Ist dieser protokollierte Niedergang die schlichte Wunschprojektion eines Verschmähten? Die kunstvolle Lakonik im Fortschreiten des Erzähl-Duktus, durch den das Immergleiche des Refrains auf immer andere Weise beleuchtet wird, ist zugleich eine fortschreitende Selbstreflexion des Erzählers.

Fassungslos stehe ich wieder einmal vor dem Widerspruch zwischen einem großartigen Text und einer Musik, die zum Transportmittel für den Text degradiert wird. Was Dylan in den Texten nie zulassen würde, eine Reihung von Gleichgültigkeiten und platten Klischees – in der Musik geschieht das.

Immerhin: das ist eine musikalische Vergleichgültigung auf hohem Niveau, die viel Stoff zum Nachdenken liefert.

Literatur:

Dylan, Bob: Chronicles, (Kiepenheuer), Köln 2008.

Fladt, Hartmut: „Kriterien der Analyse von Rock- und Popmusik – demonstriert an David Bowies „Space-Oddity“, in: Diskussion Musikpädagogik 58 (2012), S. 42-46.

Fladt, Hartmut: Der Musikversteher. Was wir fühlen, wenn wir hören,(Aufbau), Berlin 22012.

Kaiser, Ulrich: „Babylonian confusion. Zur Terminologie der Formanalyse von Pop- und Rockmusik“, in: ZGMTH 8/1 (2011), S. 43-75.

Markworth, Tino: Bob Dylan, (Rowohlt Taschenbuch), Hamburg 2011.

Stephenson, Ken: What To Listen For In Rock. A Stylistic Analysis, (Yale University Press), London 2002.

Wicke, Peter, Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, (Kiepenheuer), Leipzig 1998.

Wicke, Peter, „Popmusik in der Analyse“, in: Acta musicologica 75 (2003), S. 107-126.

Wicke, Peter; Ziegenrücker, Kai-Erik; Ziegenrücker, Wieland, Handbuch der populären Musik, (Schott), Mainz 2007.

Wicke, Peter, Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga, (Beck), München 2011.

1Cornelius Dieckmann, „Meine Helden“, in: Der Tagesspiegel, Berlin 04.07.2021, S 3.

2Wicke, Peter, Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, (Kiepenheuer), Leipzig 1998, S. 255.

3Wicke, Peter, Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga, (Beck), München 2011, S. 41.

4Dylan, Bob, Chronicles, (Kiepenheuer), Köln 2008.

5vgl. Fladt, Hartmut: Der Musikversteher. Was wir fühlen, wenn wir hören,(Aufbau), Berlin 22012, S.114 ff.

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