Ein Interview mit Jürgen B. Wolff – Teil 1

von Richard Limbert

Vor einiger Zeit nahm ich das Buch Volkes Lied und Vater Staat (Chr. Links Verlag, 2016) von Wolfgang Leyn zum ersten Mal in die Hand. Eine der wenigen wirklichen Monografien zu Folk in der DDR. Um den Namen Jürgen Wolff kam man in diesem Buch nicht herum. Als Gründer und Frontmann von Folkländer, eine der bekanntesten DDR-Folkbands, und Grafiker der DDR-Folkszene hat er die Szene durchaus mit seinen Lieder, seiner Stimme und seinen Grafiken geprägt. Darum hat es mich besonders gefreut, als ich herausfand, dass man sein Grafikstudio immer noch in Leipzig findet. Sofort trafen wir uns bei einem Kaffee in seinem Atelier in der Leipziger Shakespearestraße. Bei unserem Treffen erzählte er mir einiges über die Umstände Deutsch-Folk in der DDR zu machen, über die Inspiration zu seinen Grafiken und zu seinem Verhältnis zu den Songs von Bob Dylan. Hier der erste Teil des Interview mit Jürgen Wolff.

(Jürgen Wolff in der Moritzbastei 2011)

Ein paar biographische Eckdaten zum Einstieg:

Folkländer wurde 1976 gegründet und war bis 1982 unter dem Namen mit Wolff aktiv. Danach wurde eine Instrumentalband namens Folkländers Bierfiedler daraus, bei der Wolff aber 1983 ausstieg. Das Duo Sonnenschirm, bestehend aus Jürgen Wolff und dem Musiker Dieter Beckert, gab es von 1986 bis 2021. Im selben Jahr wurde daraufhin Folkländer mit teilweise anderem Lineup neu gegründet.

Das Interview. Teil 1:

Richard Limbert (Key West):

Ich habe gerade das Buch von Wolfgang Leyn gelesen und fand sehr spannend, dass das erst Mitte der 1970er beginnt. Das ist für meinen Geschmack ein bisschen spät. Denn das Folk Revival ist, wenn man in die USA schaut, ja bereits in den 1960ern zu finden. Leyn fängt in den 70ern aber mit dem Irish Folk an, der ab Mitte der 70er Jahre für viele Bands in der DDR prägend war. Gerade für dich als Gründer der Gruppe Folkländer: Wie kam der Irish Folk da bei euch rein?

Jürgen B. Wolff:

Also bei mir war es so, dass ich Anfang der 70er Jahre plötzlich gehäuft irische Sachen hörte. Es gab da zum Beispiel in Berlin die Band Jack & Genossen. Das waren eigentlich zwei Leute. Der eine war Bernd Eichler, ein DDR-Philosoph und Multiinstrumentalist. Der zweite war Jack Mitchell. Er war Ire und wohnte und arbeitete in der DDR. Er gab Unterricht in der Anglistiksektion an der Humboldt-Uni. Er hatte dort mit Studenten eine Singegruppe gegründet, die hieß Larkins, nach dem berühmten irischen Gewerkschaftsführer, und haben eben englische politische Arbeiterlieder gesungen. Bei Jack & Genossen gab es immer auch einen dritten Mann, der Gitarre spielte oder Bass, und so spielten sie dann auch 1972/1973 beim Festival des Politischen Liedes. Dieses Festival war ja eigentlich das Eingangstor für fast alle ambitionierte Musik, die in der DDR zu kriegen war. Normalerweise kriegten wir ha gar nix mit. Erst das Festival, das 1972 anfing, brachte dann aus aller Herren Länder Musik in die DDR. Das war natürlich eine große Leistung, eine kulturhistorische Tat, könnte man sagen. Und irgendwie haben sie’s hingekriegt, dass das Festival all die Jahre bis zum Ende der DDR bestehen blieb. Ich habe also Jack & Genossen gehört und dann ’74 die irische Sands Family. Und die waren ein regelrechtes Erweckungserlebnis für mich. Wir saßen in der Volksbühne, ich wusste ja nicht, was da auf mich zukommt, und dann kam diese Familienband auf die Bühne: Kontrabass, Gitarre, Geige, Mandoline, Banjo, Tinwhistle, so diese Grundausrüstung an Instrumentarium, und alle sangen mehrstimmig, wechselten ständig die Instrumente und hatten Fun auf der Bühne. Ich dachte mir nur: „Das ist es!“ Das kam daher, dass wir im vogtländischen Plauen einen Singeclub hatten, der in den letzten Zügen lag, und ich nach Inspiration suchte, wie es weitergehen könnte.

(Folkländer im Jahr 1980, Jürgen B. Wolff ist 2. von links, Foto: Matthias Möbius)

Richard Limbert (Key West):

Wie würdest du prinzipiell die DDR-Singebewegung und die Singeclubs in diesen Kontext einordnen?

Jürgen B. Wolff:

Die DDR-Singebewegung hatte für mich einen ganz großen positiven Aspekt, das war der, dass man ohne riesigen materiellen Aufwand Musik machen konnte. Wenn ich hätte in einer Rockband spielen wollen, hätte ich eine Anlage und Equipment gebraucht. Im Singeclub hatte einer eine Gitarre und einer vielleicht noch einen Schellenring, wenn’s hoch kam, noch einer eine Mandoline, und das reichte eigentlich schon. Dazu ein paar Leute, die beherzt sangen. Ich habe das kennengelernt im Internat. 1970/71 lernte ich in Pößneck Drucker und wohnte da im Internat. Und da hieß es plötzlich: „Ja, wir müssen jetzt hier einen Singeclub gründen.“ Und da wurde einer von draußen geholt, der eine Westerngitarre hatte und eine Liste mit vielleicht 20 Liedern. Am Anfang waren wir um die 15 Leute, die diese 20 Lieder sangen. Und ich dachte mir: „Das mit der Gitarre ist jetzt sowas von obergeil!“ Von Zuhause hatte ich gar keinen Zugang zur Gitarre. Dort im Internat ging das aber, und da habe ich angefangen zu üben. Dann kam ich zurück nach Plauen wo ich ja eigentlich geboren bin. Und dachte mir: „Jetzt kann ich 3 Griffe auf der Gitarre. Das ist jetzt mein Kapital, damit muss ich jetzt in einen Singeclub:“ Ich bin dann nassforsch dahin, und es stellte sich raus, es gab zwar einen Singeclubleiter, aber keinen Singeclub mehr. Die hatten sich irgendwie aufgelöst. Mit dem Leiter zusammen hab ich eine neue Truppe aufgebaut und dann Lieder gesungen. Da gab es natürlich so ein Grundrepertoire, das haben alle gesungen. Irgendwelche komischen optimistischen Lieder, die gar nicht mein Ding waren. Also fing ich an, Songs zu schreiben. Die hatten’s natürlich in sich, weil das war ziemlich verschwurbeltes Zeug war, das die Leute auch nicht hören wollten. Dann wurde der Singeclub aber trotzdem zu den 10. Weltfestspielen nach Berlin delegiert, wo wir drei, vier halbwegs passable Muggen hatten. Aber das Gruppenklima war schon auf der Kippe, und danach löste sich die ganze Herde auf. Ja, und da kam, ein halbes Jahr später, wie Phönix aus der Asche die Sands Family in mein Leben. Ein paar von der alten Gruppe gab es noch, 5-6 Leute. Es gab eine Mandoline, eine Gitarre, ein Akkordeon und 4,5 Leute, die sangen. So haben wir dann völlig neu angefangen. 

Richard Limbert (Key West):

Wie ging es jetzt mit den irischen Einflüssen weiter?

Jürgen B. Wolff:

Es gab damals in der DDR in mehreren Städten polnische Kulturzentren. Dort gab es Platten zu kaufen, die man sonst nirgendwo bekam, z.B. eine von der irischen Band The Quare Fellas. Das war ganz und gar fröhliche Musik, fast durchweg Irish Folk-Standards. Diese Stücke haben wir uns zuerst vorgenommen. Das Gute am Irish Folk war, dass es in der Grundstruktur ganz einfache Musik war. 2-3 Harmonien, eine Mollparallele, und wenn du das halbwegs runtergeschrummelt kriegtest, hattest du schon fast einen fertigen Song. Bei uns hat dann einer Geige gespielt, mein Freund Erik Kross, der später in etlichen anderen Bands mitgewirkt hat. Die Geige stimmte er auf Quinten und spielte nur Leersaiten, er war ja eigentlich Pianist, aber die gerschrubbten Bordune passten hervorragend. So haben wir 1974 mit einem halb irischen, halb amerikanischen Programm – eine Woody-Guthrie-Nummer war auch dabei –  den regionalen Singeclub-Wettbewerb gewonnen. Das ging ganz schnell und war ganz plötzlich unsere Musik. Dann kam ich 1974 nach Leipzig zum Studium: Grafik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Da sagte ein Kommilitone: „Ich habe ein Irish Folk Album.“ Da habe ich mit ihm um irgendwas gewettet, mein Einsatz war ein Messingleuchter und seiner war das Irish Folk-Album. Die Wette habe ich gewonnen. Somit besaß ich also schon 2 Irish Folk-Platten. 1973 hatten wir in Plauen den Club Malzhaus gegründet in einem der ältesten Gewölbekeller der Stadt.. Es war ein kleiner Club, maximal 70-80 Leute gingen da rein. Da wir kein Geld hatten und auch keine Gagen bezahlen konnten, haben viele aus den eigenen Reihen irgendwelche Programme gemacht, unter anderem Musikvorträge. Ein Kollege machte was über die Beatles, ein anderer was über Motown-Soul und ich dachte mir: Na gut, da mache ich jetzt einen Vortrag mit meinen 2 Irish Folk-Platten über Irish Folk. Ich habe mir was aus der Bibliothek zusammengelesen und dann über Irish Folk geredet. Immerhin wusste wusste ich ja schon ein bisschen mehr als die anderen, die da unten saßen.

Dann haben wir 1976 Folkländer gegründet, wo Wolfgang Leyn mit dabei war. Unser Ziel war: „Wir spielen internationalen Folk“, denn Deutschfolk war damals noch überhaupt kein Thema. Wir gründeten also eine Folkband, um thematische Programme zu machen, und weil’s so schön ist, fangen da wir mit Irisch an. Danach könnte man ja Lateinamerika oder Russland machen. Aber dazu kam’s nicht, denn Irish Folk hat uns völlig in Beschlag genommen in diesem ersten Dreivierteljahr. Dann haben wir im Herbst 1976 die erste Werkstatt für Ostfolkbands im Grafikkeller in Leipzig ausgerichtet. Die spielten ebenfalls alle Irish Folk und haben auch zum Beispiel die erste Platte von Liederjan gehört. Liederjan hatten ja in Hamburg ein Jahr früher als wir auch mit Irish Folk angefangen, sie waren uns quasi ein Dreivierteljahr voraus. Und sie hatten den großen Vorteil im Gegensatz zu uns im Osten: sie konnten mit ihrem Material eine Platte machen. Da gab es dann also Liederjan Live aus der Fabrik (1976). Und diese erste Liederjan-Platte war wirklich eine Jahrhundertscheibe. Einiges davon haben wir gecovert, das war so ein bisschen der Auslöser für den Deutschfolk. Und in der Werkstatt 1976 wurde dann ein Entschließungspapier aufgesetzt, das u.a. besagte, dass wir alle jetzt auch Deutschfolk machen wollten. 

Richard Limbert (Key West):
Wie kam das überhaupt dazu, dann Deutschfolk zu machen?

(Cover der Folkländer LP „wenn man fragt, wer hat’s getan…“ von 1982)

Jürgen B. Wolff:

Es gab anfangs ein ganz existenzielles Problem bei der Sache. Wir haben gesagt: „Wir sind jetzt eine Folkband.“ Aber den Begriff „Folkband“ als Genre gab es in der DDR nicht. In der DDR gab es Singegruppen oder Chöre oder Rockbands. Was anderes eigentlich nicht. Wir wollten aber kein Singeclub sein, denn da hätte uns die FDJ ihre Bedingungen aufgedrückt. Und ein Laienkollektiv wollten wir auch nicht sein, denn dann hätte wir dem sogenannten Zentralhaus für Kulturarbeit unterstanden und womöglich Kostüme tragen müssen. Ein beinahe unauflösbares Dilemma. Denn es kam noch was dazu: Um auftreten zu dürfen, brauchte man eine Auftrittserlaubnis, und die wurde von einer staatlichen Kommission erteilt, vor der man vorzuspielen hatte und die dann entschied, ob man professionell genug war, um im sozialistischen Kulturbetrieb öffentlich spielen zu können. Ohne die Spielerlaubnis durfte man auch keine Gage verlangen. All das. hinzukriegen war also ein Riesenproblem. Wir haben dann eine Entschließung formuliert und das Folklore-Initiativkomitee FINK gegründet. Dessen gewählte Vertreter gingen zum Kulturministerium und trugen dort unsere Sache vor. Das Ergebnis war, dass FINK sofort verboten wurde, weil Privatpersonen in der DDR nicht einfach irgendwas gründen durften. Trotzdem haben wir es dann irgendwie hingekriegt. Der Trick war, dass jede Gruppe oder jeder Einzelkünstler einen sogenannten gesellschaftlichen Träger brauchte. Denn in der DDR warst du nicht Herr deiner selbst, sondern du wurdest immer irgendwie von irgendwem an die Hand genommen. Und der derjenige, der einen an die Hand nahm, war irgendeine staatliche Einrichtung. Bei Folkländer war es das sogenannte Stadtkabinett für Kulturarbeit, bei dem wir registriert wurden und das sozusagen die kulturpolitische Aufsichtspflicht über uns hatte. Wenn wir Scheiße bauten, waren nicht wir sondern unser Träger dafür verantwortlich und kriegte eines auf den Deckel. Um keinen Ärger zu kriegen, redeten sie uns also ständig ins Gewissen. Kurze Rede, langer Sinn: Nach der Werkstatt im Oktober 1976 legten wir das irische Repertoire sukzessive weg und begannen das deutsche Volkslied zu umkreisen. Andere Folkbands haben das genauso gemacht. So kam Folkländer vom Irischen ins Deutsche.

Richard Limbert (Key West):
Gab es irgendwelche Verbindungen zu Folkmusikern und -musikerinnen aus Amerika?

Jürgen B. Wolff:
Diese Anfangszeit des US-amerikanischen Folk-Revivals in den 60ern hat bei uns so gut wie keine Rolle gespielt. Erstmal wusste davon überhaupt keiner was. Die einzige Verbindung, die es in der DDR gab, war damals der banjospielende Kanadier Perry Friedman. Ihn hatte es Anfang der 1960er in die DDR verschlagen. Sein großes Vorbild war zweifellos Pete Seeger. Friedman regte damals in Ostberlin diese Hootenanny-Singeabende an, woraus kurze Zeit später der Oktoberclub entstand, der sich als musikalisches Sprachrohr des FDJ-Zentralrats mehr unbeliebt als beliebt machte, obwohl er, im Nachhinein betrachtet, vieles anregte und auf die Beine stellte, was ohne ihn wohl nicht zustande gekommen wäre – z.B. eben das Festival des politischen Liedes und die Tradition der Kreis-, Bezirks- und DDR-weiten Singeklubwerkstätten. 

1976 im Herbst spielten wir das erste Mal auf so einer Werkstatt. Es gab eine Menge Anregung, auch für uns, und wir kriegten viel mit von dem, was die Leute dort beschäftigte, Zum Beispiel klagten sie über ausbleibendes Publikum, was bei uns überhaupt kein Problem war. Singeklubs waren damals out, und Folk, das merkten wir hier ganz deutlich, war plötzlich richtig in. Wir waren sozusagen die Kings. Irendeinen Klub zu füllen, war gar kein Problem für uns. Plötzlich standen alle auf Folk. 1978 gab es eine Werkstattwoche in Leipzig, und da wurde extra ein Folk-Abend ausgerufen. Folkländer, Wacholder, Liedehrlich und Schottenschulle spielten da. Und der Stargast war Perry Friedman. Der alte Haudegen mit seinem 5-String Banjo, den wir alle nicht leiden konnten. Es wurde überlegt, eine gemeinsame Nummer zu spielen und wir haben uns für „Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss“ entschieden. Perry Friedman saß irgendwie da, kam mit seinem Banjo nicht richtig hinterher und sagte „Ihr spielt alles viel zu schnell. Das muss alles viel langsamer sein, damit die Leute mitsingen können.“ Wir waren da alle schon gereizt, zumal wir wussten, dass das Stück allgemein bekannt war. Wir sind dann in die Ecke gegangen und haben beschlossen, einfach ein anderes Lied zu singen. Auf der Bühne dann wollte Perry Friedman mit Es es es anfangen, und wir sangen alle a cappella „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“. Das war unsere Rache. Und Perry hat jahrelang nicht mit uns geredet. 

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