
von Richard Limbert
Wie heißt es in dem alten Witz? Ein Passant geht die 57. Straße in New York entlang, sieht einen Musiker aus einem Taxi steigen und fragt ihn wie man zur Carnegie Hall kommt. Der Musiker antwortet nur mit „üben, üben, üben!“.
Ein wenig darauf zielt dieser Artikel ab, in dem ich verschiedene Konzerte Bob Dylans nicht nur wahllos nacherzählen möchte, ich will ein kleines Narrativ aufbauen. Für diese Key West-Ausgabe, wollte ich drei wichtige Konzerte aus Dylans früherer Schaffensperiode miteinander vergleichen. Mir fielen sofort drei große Klopper seiner Anfangsjahre ein, die nicht nur wichtig für den Anfang 20-Jährigen waren, sondern eben auch gut dokumentiert sind: Das Konzert in der New York Town Hall am 12. April 1963, sein erster Auftritt auf dem Newport Folk Festival vom 26. zum 28. Juli 1963 und das berühmte Konzert in der Carnegie Hall am 26. Oktober 1963. Fällt etwas auf? Alle Konzerte fanden 1963 statt. Und sofort sprang es mich an: Bob Dylans erstes Jahr der wirklich großen und gut dokumentierten Konzerte war 1963 und in der Entwicklung dieser drei Wirkungsdaten lässt sich Dylans Weg vom lokalen Held der New Yorker Folk-Szene zum durchaus landesweit bekannten Künstler erzählen. Natürlich ist mir das Problem mit Narrativen bekannt: sie bilden eben nur ein gefärbtes Bild der Geschichte ab. Aber wir werden sehen, wie sehr ich mich am Ende an diese Erzählweise halten werde. Auf jeden Fall möchte ich hier Bob Dylan anhand seiner Konzerte vorstellen. Ein Musiker besteht eben nicht nur aus komponierten Stücken und aufgenommenen Alben, auch die Konzerte bilden Eindrücke und zeigen gegangene Wege auf. In Songauswahl und Bühnenpräsenz soll hier also eine kleine Analyse stattfinden.
1. Konzert: Town Hall, New York, am 12. April 1963

Die Town Hall in New York ist eine Konzert- und Versammlungshalle, die knapp 1500 Sitze umfasst und 1921 eröffnet wurde. Sie liegt recht mittig in Manhattan, irgendwo zwischen Empire State Builiding und Central Park. Eigentlich geplant für politische Reden und Versammlungen (ursprünglich angestoßen durch die Suffragetten, die 1894 eine League for Political Education gründeten und hierfür einen Ort für Town Hall Meetings in New York suchten) wurde der Ort bereits kurz nach seiner Eröffnung ein wichtiger Ort für Konzerte jeglicher Art. Bereits im Dezember 1921 gab Richard Strauss hier drei Konzerte. Aber auch Paul Robeson spielte hier in den 20ern Konzerte afroamerikanischer Spirituals und Andrés Segovia – der Virtuose klassischer spanischer Gitarre schlechthin – konzertierte in der Town Hall. In den 40ern bis Mitte der 50er florierte das musikalische Leben Manhattans hier. Diverse Jazz-Konzerte mit Louis Armstrong und Charlie Parker wurden veranstaltet, aber auch Burl Ives stand auf dieser Bühne und Lotte Lenya gab 1951 ein Konzert für ihren kürzlich verstorbenen Ehemann Kurt Weill.
Wie passt Bob Dylan hier nun in die Town Hall? Dylan war Anfang 1963 noch kein großer Name. Knapp ein Jahr zuvor wurde er als lokaler Newcomer der Greenwich Village Folk Szene vom großen Laben Columbia unter Vertrag genommen und brachte im März 1962 sein Debütalbum heraus. Das verkaufte sich allerdings mehr schlecht als recht und Dylan als Songwriter war darauf gar nicht präsent, hier hörte man eher einen Beatnik-Folkie, der Rock’n’Roll mochte und Blues zusammen mit Folk auf ein Album presst. Nur zwei Nummern stammten aus seiner Feder. Und doch hat sich seitdem einiges getan: nicht nur schrieb er inzwischen mehr eigene Songs und machte sich im Viertel mehr und mehr Fans, auch war er nun bei Albert Grossmann unter Vertrag, einem Top Manager, der damals schon berühmt und berüchtigt war. Auch war Dylan im Winter 1962/63 bereits in Europa unterwegs und spielte in England einige Gigs.
Der neue Manager Grossmann organisierte Dylan also sein erstes großes Konzert: 1500 Leute, vor so vielen hat der 22-Jährige Dylan alleine noch nie gespielt. Dazu wandte sich Dylans Manager an den legendären Jazz- und Folk-Produzenten Harold Leventhal, der bereits mit Irving Berlin und Benny Goodmann arbeitete und sozial schon früh aktiv war. Dadurch kam seine Beziehung zu den Folk-Musiker und -Musikerinnen der 40er Jahre zustande.
Dylan war Anfang 1963 also eher eine Wild Cardfür die Promoter. Doch warum spielt er gerade in der bekannten Town Hall? Das hat mehrere Gründe. Einmal war die bereits über 40 Jahre alte Konzerthalle politisch geprägt und hatte in ihrer Führung seit Beginn einen starken Einschlag Richtung Arbeiterbewegung. Ein Blues und Folk singender junger Beatnik wurde da also gerne gesehen. Außerdem waren die goldenen Tage der Town Hall 1963 bereits gezählt: 1955 meldete die Halle ihren Bankrott an, das letzte Town Hall Meeting fand 1956 statt. 1955 konnte es nur durch einen Coup der Universität von New York gerettet werden, deren Alumni Club die Halle mit allen verbunden Räumlichkeiten Stück für Stück bis 1958 komplett aufkaufte und somit vor der Schließung retten konnte. Hier gibt es zwei Seiten der Medaille Bob Dylan. Auf der einen Seite war Dylan ein guter Partner für die Town Hall durch seine Nähe zur politischen Linken und der Campus-Klientel New Yorks, die nunmehr bestimmt einen größeren Teil des Publikums bildeten. Dylan war hier also ein guter Pick. Auf der anderen Seite war die Halle auch ein bisschen ein alter Glanz New Yorks der 40er Jahre auf absteigendem Ast (in den 70ern wurde hier für ein paar Jahre sogar komplett dicht gemacht). Für einige Künstler*innen auf dem Weg nach oben zu dieser Zeit wurde die Halle als Sprungbrett genutzt bevor dann die wirklich großen Fische kamen. Im Wikipedia-Artikel heißt es zumindest: „Town Hall was being used more often for the premieres of fledgling artists before they appeared at Carnegie Hall or Lincoln Center.“ Und das kam nicht von ungefähr. Es wird berichtet, dass die Ränge nach Ankauf durch die Universität wesentlich leerer zu sein schienen als zuvor und auch Bob Dylans Manager Grossmann und Leventhal haben sich verschätzt: die Halle blieb alles andere als ausverkauft. Es war dennoch ein wichtiger Schritt für den noch unbekannten Dylan.
Das Konzert wurde aufgezeichnet und kursierte lange in verschiedenen Bootlegs in der Dylan-Szene. Mittlerweile ist es unter verschiedenen Labels als Aufnahme erschienen. Dylans erstes Konzert in einer echten Konzerthalle zeigt uns hier einen etwas hibbeligen, nervösen Musiker, der uns an diesem Abend des 12. April 1963 in einem recht ausgiebigen Set ganze 24 Songs präsentiert:
Town Hall Setliste:
Ramblin‘ Down Thru The World
Bob Dylan’s Dream
Talkin‘ New York
Ballad Of Hollis Brown
Walls Of Red Wing
All Over You
Talking John Birch Paranoid Blues
Boots Of Spanish Leather
Hero Blues
Blowin‘ In The Wind
John Brown
Tomorrow Is A Long Time
A Hard Rain’s A-Gonna Fall
Dusty Old Fairgrounds
Who Killed Davey Moore?
Seven Curses
Highway 51 (Curtis Jones)
Pretty Peggy-O (trad., arranged by Bob Dylan)
Bob Dylan’s New Orleans Rag
Don’t Think Twice, It’s All Right
Hiding Too Long
With God On Our Side
Masters Of War
Last Thoughts On Woody Guthrie
Dylan setzt sich hier zum ersten mal vor einer relativ großen Öffentlichkeit in Szene. Und wie macht er das? Er beginnt das Konzert mit einem Cowboy-Song der wohl nicht von ihm ist. Er spielt „Ramblin‘ Down Throught the World“, das in manchen Quellen als Woody Guthrie-Stück, in manchen als Dylans Komposition bezeichnet wird. Auf jeden Fall ist es zumindest sehr stark an Woody Guthries Stil angelehnt. Dylan zeigt sich als wandernder Cowboy, ähnlich wie Ramblin‘ Jack Elliott ein paar Jahre zuvor. Nach diesem Statement zeigt sich Dylan jedoch von seiner anderen Seite: der junge Songwriter. Sein bahnbrechendes Album The Freewheelin‘ Bob Dylan sollte zwar erst in ein paar Wochen erscheinen, hier spielt er aber einige Song von diesem Album, das fast nur noch Eigenkompositionen enthalten sollte. Irgendwo zwischen Protestlied und folkiger Ballade präsentiert er hier einen eigenen Stil. Doch sind hier auch ein paar wunderbar ulkige Titel dabei. Ein Aspekt, der vielen heutigen Dylan-Hörern und Hörerinnen entgeht, ist eben auch, dass Humor einen ganz großen Teil der frühen Alben ausmacht. Von Titeln wie All Over You, das einer wahnwitzigen Wette entsprungen ist, zu Talking John Birch Paranoid Blues, das die völlig irre Kommunistenjagd der 60er als Song in Character porträtiert, zu Bob Dylan’s New Orleans Rag, das eigentlich nur ein einziger schlüpfriger Boomer-Joke ist. Die Setliste quillt vor Songs wie diesen über. Auf der anderen Seite sind hier auch emotionale Balladen dabei, die für Dylan damals noch neues Terrain waren. Boots Of Spanish Leather sollte erst ein ganzes Jahr später auf The Times, they Are A-Changing erscheinen. Vor allem ist hier aber spannend: Dylan ist stolz auf die Stücke, die später auch als maßgebend nicht nur für sein Werk, sondern für die gesamte Musiklandschaft der 60er Jahre angesehen werden sollten. Mit Blowin‘ in the Wind und A Hard Rain’s A-Gonna Fall sollte Dylan Stücke schreiben, die mit ihrer Mischung aus Beat-Poesie und Bildsprache aus Folklore und Literatur den Singer-Songwriter als solchen maßgeblich formen sollten. Und Dylan webt diese Stücke hier wissentlich in sein Set ein, obwohl keines davon schon auf Platte erschienen ist. Dylan stellt sich hier aber summa summarum in eine klare Tradition der singenden Cowboys (wenn auch mit Beatnik-Einschlag). Legendär ist das Ende dieses Konzerts: Bob Dylan ehrt sein Idol Woody Guthrie, indem er sein Gedicht Last Thoughts On Woody Guthrie zum ersten und einzigen Mal live rezitiert. Er bekommt Standing Ovations.

(Albumcover der Konzertaufnahme, Quelle: Rattle Snake Records)
Was sehen und hören wir also hier? Bob Dylan zeigt sich im April 1963 als witziger Weirdo-Cowboy, der auch ernste aber – vor allem – eigene Titel spielen kann. Er ist unterhaltsam und hat trotzdem ein Gefühl dafür, was in Politik und Weltgeschehen, aber auch ganz lokal, gerade vor sich geht. Dylan hat seine erste Feuerprobe in der Town Hall gut bestanden.
Wie sieht das nun im Juli beim Newport Folk Festival in Rhode Island knapp drei Monate später aus?
2. Konzert: Newport Folk Festival, Rhode Island, am 26. bis 28. Juli 1963

Zwischen April und Juli 1963 ist in Bob Dylans Leben viel passiert: Ende Mai kam mit The Freewheelin‘ Bob Dylan ein Album heraus, dass Bob Dylan in kleinerem Rahmen national bekannt machte. Vor allem aber wurde Blowin‘ in the Wind veröffentlicht. Und ich rede hier nicht von der Bob Dylan-Version. Peter, Paul & Mary brachten ihre Coversion des Songs im Juni 1963 raus und erreichte in den US Billboard Charts die Nr.2 und Nr. 13 im UK. Bob Dylan wurde vor allem als Songwriter gewürdigt. Er kam also im Sommer 1963 auf die Bühnen des wiederaufgelebten Folkfestivals, der den Folk-Hit seiner Generation geschrieben hat. Für die meisten war er eben genau das, nicht mehr und nicht weniger.
Das Newport Folk Festival fand 1963 zum ersten Mal nach zweijähriger Pause statt, nachdem es 1959 und 1960 bereits durchaus Anklang gefunden hat, als es den frphen Folk-Boom der späten 50er Jahre aufgriff. Im beschaulichen Städtchen Newport in Rhode Island fand (und findet es noch heute) in einem malerischen Park statt. Bob Dylan spielte hier neben anderen Größen wie Joan Baez, Pete Seeger und Dave van Ronk. Die Konzerte hier fanden tagsüber meist vor kleinerem Publikum in verschiedenen Workshops statt und abends dann zentral auf der Hauptbühne des Geländes. Das Festival hatte durchaus viele Besucher und wurde national rezipiert. Dylan geriet dazu noch in die Schlagzeilen, weil er im Mai 1963 einen Auftritt in der Ed Sullivan Show ausschlug: sein geplanter Talking John Birch Paranoid Blues passte den Sendungsmachern nicht ins Bild. Der schon selbstbewusstere Dylan spielte in ganz unauffälliger Kleidung seine Songs und wirkte etwas ernster. Schauen wir uns nun die Titel an, die Dylan hier im Juli 1963 spielte:
Freitag, 26. Juli 1963:
– Abendkonzert:
With God On Our Side *
Only A Pawn In Their Game
Talking John Birch Paranoid Blues *
A Hard Rain’s A-Gonna Fall *
– Abendfinale:
Blowin‘ In The Wind (zusammen mit den Freedom Singers, Joan Baez, Pete Seeger und Peter, Paul & Mary)
We Shall Overcome (trad.)
Samstag, 27. Juli 1963:
-Veranda des Newport Casino, -Afternoon workshop.
North Country Blues
With God On Our Side (mit Joan Baez)
Sonntag 28. Juli 1963:
– Wiese vorm Newport Casino, –Topical songs workshop.
Who Killed Davey Moore?
Masters Of War *
Playboys And Playgirls (mit Joan Baez)
– Abendkonzert (im Duo mit Joan Baez).
With God On Our Side
Was fällt hier auf? Die Sets sind hier sehr auf seine eigenen Songs fixiert. Bis auf den novelty song Playboys And Playgirls sind das hier alles Eigenkompositionen. Außerdem fällt hier eine beinah stetige Duo-Situation auf. Dylan spielt viel zusammen mit Joan Baez. Baez war zu diesem Zeitpunkt der durchaus größere Star der Szene und sollte den Newcomer Dylan hier wohl noch etwas pushen. Auf jeden Fall ist alles weniger humorvoll. Bis auf den Talking John Birch Paranoid Blues sind das alles ernste Songs, in denen es um soziale und politische Fragen geht (und selbst der nimmt ein politisches Thema humorvoll auf). So wurde Dylan von der Öffentlichkeit im Juli 1963 eben gesehen: Der Typ, der am Abend auf der Hauptbühne zusammen mit einer Gruppe politischer Sänger aus Missisippi, Pete Seeger, Joan Baez und Peter, Paul & Maty Arm in Arm Blowin‘ In The Wind singt. Ansonsten spielt der junge Folksänger wirklich auch kurze Sets, er wird aber erstmalig national wahrgenommen und zeigt sich fähig für den Job.
3. Konzert: Carnegie Hall, am 26. Oktober 1963

Im Sommer 1963 sollte Bob Dylan als Figur der Bürgerrechtsbewegung noch weiter ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt werden. Im August 1963 nahm er Seite an Seite mit Martin Luther King beim March on Washington teil und spielte einige seiner Songs vor vielen tausend Co-Demonstranten. Außerdem nahm er bereits Material für sein im Januar 1964 erscheinendes Album, The Times They are A-changin auf, das Dylan in seiner Klangsprache und Texten eher kühl und abweisend zeigte. Er fühlte sich einfach mehr und mehr in eine Ecke gedrängt. Dabei sah er seine Verantwortung jetzt noch klarer und komplexer vor sich, er wird ernster. Auch dieses Konzert wird von Harold Leventhal organisiert und Bob Dylan kennt den Ort bereits. 1961 spielte er in einer kleineren Nebenhalle hier vor 53 Leuten und 1962 als Teil eines Konzerts für und von Pete Seeger. Doch dieses Konzert sollte anders sein und vor vollen Rängen spielte Bob Dylan ein Konzert. 2.800 Leute passen in den Raum, wahrscheinlich waren die Plätze gut gefüllt. Jetzt machte eine Buchung des großen Saals erst Sinn für Dylans Managment. Zwei Tage später sollten die ganze Großen, Peter, Paul & Mary, hier ein Konzert spielen. Bob Dylan spielt hier keine zwei Jahre nach seine Ankunft in New York in einer der berühmtesten Konzerthallen der Vereinigten Staaten. Er hat sich den Weg mit seinen Songs er-spielt, aber mit seinen Texten vor allen Dingen er-schrieben. Das zeigt sich auch in seinem Set des Abends:

(Cover eines 2005 erschienenen Albums mit Aufnahmen des Carnengie Hall-Konzerts, Quelle: Sony Music)
Setliste, Carnegie Hall:
The Times They are A-changin
Ballad of Hollis Brown
Who Killed Davy Moore
Boots of Spanish Leather
John Birch Society Blues
Lay Down Your Weary Tune
Blowin’in the Wind
Percy’s Song
Seven Curses
Walls of Red Wing
North Country Blues
A Hard Rain’s A-Gonna Fall
Talking WW III Blues
Don’t Think Twice, It’s Alright
With God On Our Side
Only a Pawn in Their Game
Masters of War
The Lonesome Death of Hattie Carroll
When the Ship Comes In
Dylan zeigt sich als völlig gefestigter Folkmusiker und Singer-Songwriter hier in einem rmittelmäßig langen Set von 19 Songs. Sein Humor ist hier schon weniger zu spüren und blitzt kürzer auf. Z.B. hat er den John Birch Society Blues hat er im Programm (wahrscheinlich aber auch nur wegen dem Ed Sullivan Show-Vorfall). Aber vor allem ist Politik hier ein großes Thema, und wer ein Konzert mit When the Ship Comes In beendet, der will seinen Zuhörern auf jeden Fall eine Message mitgeben. Aber auch die Schattenseiten des aktuellen Zeitgeschehens werden mit Masters of War oder The Lonesome Death of Hattie Carroll in düsteren Erzählungen akzentuiert. An sich ist alles etwas ernster. Bob Dylan steht nun als national anerkannter Folkmusiker auf einer großen Bühne und weiß um seine Position. Er spielt seine Songs nicht herunter, aber er hat eine gewisse Ernsthaftigkeit in seiner Dynamik, er spielt die Titel schon sehr straight. Selbst der Talking WW III Blues der von einem Tag im postapokalyptischen New York handelt und sonst immer für Lacher sorgt, klingt im Oktober 1963 fast ernst.
Was zeigt sich hier?
Was wir hier sehen, ist eine Entwicklung eines Musikers, der in Zusammenarbeit mit einem eifrigen Management vom lokalen Guitarhero zum nationalen Folk-Musiker wurde und dabei etwas an Kindlichkeit verloren, aber auch an Reife gewonnen hat. Die Venues werden zwar größer, der Aufstieg zum richtigen Star lässt allerdings noch etwas auf sich warten und die Organisation und Umstände der Auftrittsorte lassen eine spannende Vernetzung zwischen Musiker*innen, Organisatoren und wirtschaftlichen Faktoren erkennen.
Aber auch vieles bleibt gleich bei den Konzerten Bob Dylans in diesem wichtigen Jahr. Never change a running Team und natürlich erkennt er hier seine großen Hits, die er bis heute spielt. Aber beispielsweise der irre Talking John Birch Society Blues, der erst im Herbst 1962 zum ersten mal live gespielt wurde, bleibt sein Favorit. Doch 1964 spielt er ihn schon viel seltener und 1965 nur noch ein – und gleichzeitig das letzte – mal. Die Songs, die eben sehr topical sind und auf ein dezidiertes Geschichtsereignis hinweisen, altern nunmal auch sehr schnell. Who Killed Davey Moore und Only A Pawn in Their Game spielt Dylan seit 1964 nicht mehr, obwohl 1963 noch als oft gespielte Titel im Repertoire gehört. Der Turn vom politischen Liedermacher zum Singer-Songwriter sollte noch auf sich warten lassen. Dylan bleibt dennoch, zumindest bis er im Sommer 1965 die E-Gitarre einstöpselt, generell zu Scherzen aufgelegt, nahbar und scheint sehr mit seinem Publikum im Reinen. Wirklicher Zweifel in Dylan sollten stilistisch erst wenige Wochen später im November 1963 entstehen, als er die Beatles zum ersten mal hört und daraufhin im Februar 1964 einen Roadtrip mit dem Auto durch die USA startet. 1964 ist Dylan schon wieder ein anderer.
Interessant ist hier allerdings auch die weitere Forschung zum Thema: als Archivar im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach freue ich mich, bald vielleicht neue Dokumente und Informationen zu den Konzerten in New York liefern zu können. Sobald die Michael Kleff-Sammlung, die eine der größten Folk und Country-Sammlungen in einem deutschen Archiv darstellen wird, in das Lippmann+Rau-Musikarchiv kommt, werden somit auch durch die darin enthaltene Harold Leventhal-Sammlung diverse Dokumente und planerische Unterlagen des Carnegie Hall-Konzerts 193 (und vielleicht auch etwas zum Town Hall-Konzert) in das Archiv kommen. Weitere Forschung zu diesem wichtigen Konzert kann somit angestoßen werden und ich glaube, selbst zu so einem wichtigen Thema gibt es noch viel neues zu wissen.
Hiermit lade ich jeden und jede Interessierte*n ein, in das Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach zu kommen und selbst in den knapp 100 Sammlungen unseres Hauses eigene Recherchen zu führen. Spannende neue Funde tauchen immer wieder auf.
[…] 1963: Bob Dylans erstes Jahr der großen Konzerte – Town Hall, Newport Folk Festival & Carnegi… […]
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